Die große Deutschen-Lüge – Schluss damit!

Von Marion Kraske

Der Rat für Migration hat jüngst eine wegweisende Äußerung getan. Im lautstarken PegidaLegida-Geheule, im Windschatten einer immer dramatischer werdenden Ukrainekrise, im Dauer-Hickhack um eine Stabilisierung des klammen griechischen Haushaltes ging sie allerdings unter wie eine Sylvester-Böller, der ohne größere Wirkung am Himmel verpufft. Dennoch war die Äußerung des Expertengremiums in vielfacher Hinsicht bemerkenswert, räumt sie doch in großer Klarheit mit jahrzehntelangen Selbstlügen made in Germany auf.

Mit Blick auf die inzwischen zerfaserte Pegida-Bewegung forderte der Rat nachdrücklich, in Deutschland ein neues Leitbild zu entwickeln. Die Interpretation des so schlicht wie komplizierten Identitätsstempels „Wir Deutsche“ bedürfe dringend einer Frischzellenkur, so die Forderung der Experten. http://www.tagesschau.de/inland/migrationsrat-pegida-101.html

In der Tat schiebt Deutschland seit Jahrzehnten ein seltsam unrealistisches Selbstbildnis vor sich her, gleich einer kostbaren Monstranz, die nur ja nicht zu Boden krachen und den schönen Schein zerdeppern durfte. Deutsche, so die Vorstellung einer prägenden Masse im öffentlichen Diskurs, sollten jene sein, die zwischen Duisburg und Dresden, zwischen Füssen und Flensburg lebten, und das bitt schön seit Generationen. Deutscher Opa, deutsche Oma, deutscher Uropa, deutsche Uroma. Deutscher Grünkohl. Deutscher Dackel. Das höchste Zugeständnis an die Welt da draußen: Ab und zu nen Döner. Und einmal im Jahr ab nach Malle.

Jahrelange fortgesetzte Realitätsverweigerung

Geschürt wurde diese Haltung von einer Politik, die jahrelang ihrerseits fortgesetzte Realitätsverweigerung betrieb. Angela Merkel erklärte noch im Jahr 2010 mit ungelenker Verve, dass Multikulti gescheitert sei. Ihre Anhänger klatschten begeistert Beifall, als könne die Lautstärke des Jubels die tatsächlichen Zustände in der Gesellschaft atomisieren.

Einer der nach wie vor dummdreistesten Realitätsverweigerer, Horst Seehofer, verstieg sich in einem 7-Punkte-Programm gar zu der obskuren Feststellung, dass Deutschland kein Zuwanderungsland sei.

Wer damals in seinen Familien- und Freundeskreis schaute, wer all die bunten Familienzusammenhänge um sich herum studierte, fragte sich erstaunt, auf welchem fremden Planeten diese so christlich orientierten Geister denn eigentlich lebten. Immerhin haben es die Realitätsverdränger sämtlicher Couleur nun schwarz auf weiß: Nach Angaben des statistischen Bundesamtes besitzt fast jede dritte Familie ausländische Wurzeln. Deutschland ist also vor allem eins: Gelebtes Multukulti.

Deutsches Mia-san-mia-Getrommel

Das Leugnen der tatsächlichen gesellschaftlichen Zustände indes war alles andere als ein harmloser Fauxpas. Die große Deutschen-Lüge sorgte dafür, dass sich Deutschland im Innern über Jahrzehnte einer notwendigen Integrationsbereitschaft verweigerte, die sie doch von den Zuwanderern stets vehement einforderte. Auf diese Weise wurde eine notwendige proaktive Integrationspolitik um Jahre verschleppt. Während Länder wie Kanada international längst um die besten Köpfe buhlten, gefiel man sich im Land der Dichter und Daimler AG in der Rolle des Superstars, der Menschen aus anderen Ländern schlicht nicht nötig hatte. Welch folgenreicher Denkfehler. Heute fehlt es in etlichen Branchen an geeigneten Fachkräften, die sich nicht zuletzt aufgrund der abschottenden Ausländerpolitik hierzulande lieber anderswo niederließen. Wer wollte es Ihnen verdenken?

Das Festhalten am deutschen Mia-san-mia-Getrommel führte zudem dazu, dass Zuwanderung – obwohl seit den 60er Jahren gesellschaftliche Realität – noch immer nicht jene Akzeptanz erfährt, die einem aufgeklärten Land gut zu Gesicht stehen würde. Bestes Beispiel: Ungeachtet ihrer Qualifikation sind Menschen mit Migrationshintergrund bei der Jobsuche hierzulande nach wie vor benachteiligt, Arbeitgeber achten bei Einstellungen darauf, ob der Name des Stellenbewerbers denn auch schön nach Meier oder Müller klingt. Peinlich, keine Frage, und leider auch ganz schön blöd. Auf diese Weise verzichten Unternehmen freiwillig auf gut ausgebildete Menschen, die aufgrund von bilingualer Erziehung oder Lebenserfahrungen zusätzliche Qualifikationen mitbringen als der Ottonormal-Deutsche.

Keine Frage, die allseits verbreitete Deutschland-den-Deutschen-Verklärung ist bis heute nachhaltig bewusstseinsprägend. Nicht zuletzt sieht der Rat für Migration in der fremdenfeindlichen und rassistischen Pegida-Bewegung die Nachwehen eben jener Haltung, die Zuwanderung negierte, obwohl die Realitäten ganz andere waren.

Deutschtum paradox

Die lange offene und öffentlich zelebrierte Verdrängung der gesellschaftlichen Tatsachen trug jeodch dazu bei, dass hierzulande Menschen (angebliche Patrioten) auf die Straße gehen, ausgestattet mit einem komplett entrückten nationalen Ich-Bild, mit dem Ziel, ein Land vor etwas verteidigen wollen, das es gar nicht gibt. Deutschtum paradox.

Mitunter hilft bei derartigen Verirrungen der bloße Blick ins Reich der Fakten. Laut einer aktuellen Studie der OECD ist Deutschland nach den USA weltweit das zweitwichtigste Einwanderungsland. Und nicht etwa die bösen Islamisten lassen sich hier massenhaft nieder, vielmehr kommen vor allem EU-Zuzügler aus benachbarten Ländern, so wie es der europäische Gedanke vorsieht. Immerhin zeigt eine neue Studie der Bertelsmann-Stiftung, dass die Aufgeschlossenheit gegenüber Einwanderung und Einwanderern zunimmt, wenn auch nur im Westen der Republik. Im Osten, wo ohnehin die wenigsten Menschen mit anderen Wurzeln leben, nimmt sie eher ab.

Neben der Selbstverständlichkeit, die Zuwanderung heute darstellt, bleibt noch zu erwähnen, dass diese Zuwanderung der Gesellschaft auch zugute kommt. Die im fremdenfeindlichen Diskurs gern gemachte Aussage von der „Zuwanderung in unsere Sozialsysteme“ – sie ist eine Mär und zeigt nur, wie sehr Rechtspopulisten und Rechtsextreme für ihre Zwecke die Wahrheit verbiegen.

Das “Wir” neu definieren

Es ist also an der Zeit, dass Deutschland nachbessern muss. Das „Wir“ muss neu definiert werden muss.
Wir Deutsche – das sind wir alle, die Deutschdeutschen in x-ter Generation, die Jugos, die Italiener, die Griechen, die Spanier und Franzosen, Perser, Farbige, die binationalen Familien, in denen Kinder mit zwei oder mehreren Sprachen aufwachsen, die türkischen Großfamilien, die russischen Aussiedler, Bulgaren, die sich übrigens ungleich besser integrieren als das, was in den Hetzmedien dieser Republik so gerne als Klischee verbreitet wird, und ebenfalls die allseits so gern gebashten Sinti und Roma. Für alle Rest-Zweifler liefert ein Blick in die Welt des Fußballs, genauer in unsere Männer-Nationalmannschaft, womöglich den besten Beweis, was Deutschland tatsächlich ist: Ein bunter Kosmos, ein Gemischtwarenladen, eine Produkt jahrzehntelanger Zuwanderung. Ein Sammelbecken unterschiedlichster kultureller Einflüsse.

Der Rat für Migration hat daher recht, wenn er fordert: Ein neues Leitbild muss her! Nicht jene armselige Leitkultur, die Friedrich Merz, ein anderer Realitätsverweigerer erster Güte, einst einforderte, indem er den Deutschen die Führung als selbstgefällige Leithammel zuerkannte, denen die anderen untertänigst hinterher trotteln sollten.

Nein, es bedarf eines Leitbildes, das endlich Schluss macht mit der großen deutschen Selbstlüge. Eines, das anerkennt, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist (und das schon seit langem) und anerkennt, dass Deutschland diese Zuwanderung dringend braucht.

Wertschätzende Grundhaltung gegenüber anderen Kulturen

Wir brauchen ein Leitbild, das auch den letzten Realitätsverweigerern deutlich macht, dass die Welt global tickt und unser Land ein Teil dieser globalisierten Welt ist. Ein Leitbild, das Zuwanderer als Teil des großen Ganzen definiert, das Freizügigkeit als Ausdruck von Freiheit preist und nicht als Schreckgespenst. Ein Leitbild, das Verständnis für neue Lebensrealitäten liefert, nach denen man heute in Barcelona lebt und arbeitet, morgen in Rom und übermorgen vielleicht an die Elbe zieht.

Wir brauchen ein Leitbild, das eine wertschätzende Grundhaltung anderen Kulturen gegenüber transportiert, eines, mit dem sich Menschen unterschiedlicher Herkunft auf Augenhöhe begegnen können. Ein Leitbild, das Hetze und Hass von rückwärtsgewandten, selbsternannten Abendlandrettern als das entlarvt, was es ist: Blinder, hirnloser Rassismus. Wir brauchen ein Leitbild, das Buntheit und Vielfalt wertschätzt, das die Chancen dieser Vielfalt proklamiert und damit den notwenigen Kitt für ein friedliches Miteinander liefert.

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