Die Gefährdung der Demokratie und die drei “E”´s

Von Samuel Salzborn, Professor für Grundlagen der Sozialwissenschaften an der Georg-August-Universität Göttingen

Der am vergangenen Wochenende von den United Nations begangene „Welttag der Demokratie“ entbehrt nicht einer gewissen Ironie: sind doch die Mehrheit der UN-Mitglieder gar keine Demokratien, gleicht das Bemühen der demokratischen Akteure in den United Nations immer mehr der Effizienz und Nachhaltigkeit von Papiertigern. Gleichwohl kann man einen Welttag der Demokratie auch als normatives Postulat lesen – den weltweiten Kampf für Demokratisierung und gegen autoritäre und totalitäre Regime nicht nur fortzusetzen, sondern zu intensivieren. Zu einer solchen internationalen Auseinandersetzung gehört auch, sich Gedanken über die Systematik der zentralen Bedrohungen von Demokratien und Demokratisierungsprozessen zu machen.

Insofern stellt sich die Frage: Worin liegen die zentralen Herausforderungen, vor die die Demokratie im 21. Jahrhundert gestellt ist? Im Folgenden sollen drei der zentralen Bedrohungen für die Demokratie kurz skizziert werden, die sich auf die Formel der drei „E“‘s bringen lassen: Entpolitisierung, Essentialisierung und Elitisierung.

Die Gefahr der Entpolitisierung besteht in einer Auflösung des politischen und rechtlichen Rahmens, den der souveräne Nationalstaat garantiert: das bürgerliche Recht mit seinem allgemeinen und gleichen Charakter bedarf eines souveränen Monopols von Gewaltsamkeit, das bei Suspendierung von demokratischen Rechten in der Lage ist, diese Suspendierung zu sanktionieren und damit Freiheit zu sichern. Die gegenwärtig vollzogene Privatisierung und Entstaatlichung organisierter Gewaltanwendung und die Verlagerung der Kriegführung in Räume begrenzter Staatlichkeit mit asymmetrischer Struktur bewirkt hingegen das Gegenteil: die Beschneidung von Freiheit.

Zu einem demokratischen Anspruch muss dabei eine klare Definition dessen gehören, was als demokratisch zu gelten hat und was nicht – und damit eine eindeutige politische Grenzziehung, die aber – da sie politisch und nicht essentiell ist – auch Revisionen zulässt.

Chantal Mouffe hat in diesem Kontext vor einer „kosmopolitische Illusion“ gewarnt, die durch die Aufhebung klarer Kategorien des Politischen und damit auch der staatlichen Souveränität grundiert wird. Der Kern des Politischen liegt in der Anerkennung von politischen Differenzen und Interessenkonflikten, die agonistisch sind, und eine pluralistische Gesellschaft kennzeichnen. Das Politische wird begriffen als in seinen konzeptionellen Grundlagen von Interessen bedingten Konflikten bestimmt, die mit klaren Freund-Feind-Unterscheidungen einhergehen.

Insofern wird die terminologische Differenzierung von Carl Schmitt aufgegriffen, die Interessenkonflikte aber nicht – wie bei Schmitt – mit einem subtil ethnisierenden Gesellschaftsbegriff unterlegt, sondern davon ausgegangen, dass das Politische durch den für die menschliche Gesellschaft konstitutiven A(nta)gonismus bestimmt ist, der sich entlang von Interessen organisiert und stets konflikthaft sein muss.

Der Ort, der die Reglements für diese Interessenkonflikte festlegt, ist der souveräne Staat. Wenn dessen Souveränität eingeschränkt wird oder wegfällt, obsiegt im Interessenkonflikt der physisch Stärkere, das Ausagieren politische Konflikte wird nicht eine Frage von Argumenten, sondern von Gewalt – in Verlust gerät dabei die Freiheit und mit ihr Möglichkeiten der demokratischen Partizipation.

Dies zu betonen ist deshalb so zentral, weil einerseits innerhalb der etablierten Demokratien die Wahrnehmung der Notwendigkeit von innerer und äußerer Sicherheit zur Garantie von jeder Form von Freiheit durch eine souveräne Zentralgewalt verblasst, andererseits aber gerade die neu etablierten Demokratien sowie diejenigen Gesellschaften, in denen demokratische Bewegungen gegen autoritäre oder totalitäre Herrschaft kämpfen, erst am Beginn der Demokratisierungsentwicklung stehen, deren Erfolg entscheidend davon abhängt, ob staatliche Souveränität als Ermöglichungspotenzial von Demokratie errichtet werden kann oder nicht.

Die Idee einer deliberativen Weltgesellschaft, die den intellektuellen Gegenpart zu diesen Überlegungen bildet, kann dabei nur die Utopie einer kleinen, hoch gebildeten, finanziell unabhängigen und kosmopolitisch agierenden Elite sein; den Hungernden im Kongo, den Kindersoldaten in Burma, den Landminenopfern in Angola, den verlassenen Kindern in Indien, den Zwangsprostituierten in der Ukraine, den Textilarbeiterinnen in Bangladesch, den Genitalverstümmelten in Somalia oder den verfolgten Homosexuellen im Iran nutzt eine solche kosmopolitische Illusion wenig.

Denn diese Utopie geht nicht nur an der sozialen Realität ihres Lebens vorbei, sondern sie wäre sogar der sichere Garant für ihren Tod: Was die von elementarer sozialer, ökonomischer und politischer Not betroffenen Menschen brauchen ist keinen freien Diskurs, sondern die grundlegende Sicherung ihres Lebens und damit ihrer physischen Freiheit durch eine souveräne, demokratische Zentralgewalt. Zentralgewalt ist, darin liegt die Ambivalenz, freilich nicht immer demokratisch – aber ohne sie ist die Entwicklung einer Demokratie unmöglich. Erst wenn es ein souveränes Gewaltmonopol gibt, also alle Menschen bereit sind, die erlassenen Gesetze und Verordnungen zu befolgen, sich der Zentralgewalt unterzuordnen und diese zugleich als legitim anzuerkennen, erst dann kann auf eine wirkliche Demokratisierung gehofft werden. Ohne staatliche Souveränität gibt es somit überhaupt keine Chance auf Demokratie.

Denn staatliche Souveränität ist die Grundvoraussetzung für jede demokratische Entwicklung, die nachhaltig sein und zu politischer Stabilität führen soll. Souveränität bedeutet die Errichtung eines Gewaltmonopols, nach innen und nach außen, ohne das Demokratie unmöglich ist. Und das gilt gleichermaßen für politische Demokratie, im Sinne von politischer Willensbildung, Partizipation und Kontrolle von Macht und Gewalt, wie für soziale Demokratie, im Sinne von individueller Freiheit, Gerechtigkeit und Chancengleichheit. Eine politische Ordnung, die nicht souverän ist, steht vor dem Problem, dass jede gesellschaftliche Gruppe, von der kriminellen Bande bis zu religiösen Fundamentalisten oder ethnischen Separatisten, immer und überall die geltenden Regeln mit Gewalt in Frage stellen kann. Und Demokratie baut gerade auf diesen Garantien: Rechtssicherheit, Sicherung der Lebensgrundlagen und vor allem dabei auch des alltäglichen, nackten Überlebens. Nur staatliche Souveränität kann diese Sicherheiten garantieren.

Staatliche Souveränität garantiert auch die Unverbrüchlichkeit des Staatsterritoriums. In ethnopolitischen Konflikten werden diese territorialen Souveränitätsaspekte suspendiert, ethnoregionale Bewegungen wollen mit ihrem Kampf gegen die demokratische Souveränität zugleich auch die Freiheit aufheben, was auf die Gefahr der Essentialisierung verweist, bei der Politik ethnisiert wird.

Soziale und politische Konflikte werden naturalisiert und in einen essentialistischen Entstehungszusammenhang gerückt. Indem Ethnizität als essentielle Kategorie gedacht wird und zum höchsten Gut des „menschlichen Wesens“ avanciert, besteht das politische Ziel in einer kompletten sozialen und politischen Segregation von Menschen entlang ethnischer Kriterien sowie in der Schaffung separierter Ethnoregionen. Die Gefahr dieser Essentialisierung des Sozialen ist, dass auf allen gesellschaftlichen und politischen Ebenen ethnische Parallelstrukturen geschaffen werden, die zu einer sozialen Segmentierung innerhalb der jeweiligen nationalen Gesellschaft führen. Politische Konflikte und soziale Missstände werden dabei nicht mehr als solche wahrgenommen, sondern deren Ursachen in ethnischen Differenzen vermutet.

Zugleich bietet die vorpolitische Flucht ins Essentielle für die Individuen aber auch den Schein von sozialer Sicherheit und gemeinschaftlicher Verlässlichkeit, da die emotionale Dimension gestärkt und das Deprivationsgefühl auf diese Weise kurzfristig kompensiert wird. Essentialisierung ist insofern auch eine Variante der Entpolitisierung, generiert aber eigene Dynamiken der Entdemokratisierung.

Der „ethnische Gemeinsamkeitsglaube“ (Max Weber) bildet den Kontext für eine kulturalistisch geprägte Definition von In- und Out-Groups, die sich auf eine fundamentalistische Annahme von menschlicher Ungleichheit stützt. Insofern stellt die Ablehnung von Zuwanderung und Migration die folgerichtige Kehrseite der Ethnisierung dar, da ethnisierte soziale Beziehungen sich im Innern auf ethnische Homogenität und nach Außen auf völkische Exklusion gründen. Das von ethnoregionalen Bewegungen dabei verfolgte politische Konzept zielt auf die Revision der Staatsgrenzen, die aufgehoben und nach ethnischen Kriterien neu gezogen werden sollen. Das Ziel ist die Schaffung einer antistaatlichen Ordnung, in der „machtstaatliches Handeln nach außen mit einer autoritären Formierung nach innen“ (Friedemann Schmidt) verbunden werden soll.

Eine neben der ethnopolitischen bedeutsame Variante der Essentialisierung als Gefahr für die Demokratie ist die Renaissance politischer Religionen, die zum einen den Subjektanspruch, der jeder Demokratieannahme zugrunde liegt, widersprechen und mit ihrem hierarchischen Weltdeutungsmonopol gegen demokratische Selbstbestimmungsvorstellungen opponieren. Der Totalitätsanspruch, wie er etwa im evangelikalen Christentum, im Hindu-Fundamentalismus, im tibetanischen Buddhismus oder – im Besonderen – im radikalen Islamismus verfolgt wird, verbindet die Ablehnung menschlicher Subjektivität mit der Formulierung totalitärer Ordnungsvorstellungen, in denen plurale Gesellschaften in homogene Gemeinschaften verwandelt werden sollen. Die religiöse Variante der Essentialisierung entzieht ihrerseits der Demokratie ihre Grundlagen der Pluralität und Kontroversität und negiert jede Form von negativer Freiheit.

Die dritte Gefährdung von Demokratie besteht in einer Elitisierung von Politik. Aufgrund der „Vermarktlichung“ (Frank Nullmeier) des Sozialen verlagern sich Entscheidungsprozesse in einen Macht dominierten Raum jenseits des Rechts, in dem politische Entscheidungsmacht auf nicht-legitimierte Marktakteure übergeht. Neben politischen Akteuren treten (medien-)ökonomische Kräfte auf die Agenda, die dieses Souveränitätsvakuum für eigene Zwecke nutzen und damit politische Freiheit einschränken, wobei soziale Leistungen in individuell zu bezahlende Arbeit verwandelt werden. Die (Selbst-)Zurichtung politischer Fragen auf Marktförmigkeit transformiert den Markt damit zum Imperativ der Politik und elitisiert auf diese Weise politische Entscheidungen.

Die Elitisierung erfolgt dabei in doppelter Hinsicht, einerseits durch Auslagerung politischer Entscheidungen auf private Akteure, entweder durch Kompetenzübertragungen (z.B. private Sicherheitsdienste) oder durch Übernahme ökonomischer Prinzipien für politische Prozesse (z.B. in der Gesundheits- oder der Sozialpolitik), andererseits durch Internalisierung der ökonomischen Entscheidungslogik einer angeblichen Alternativlosigkeit im Kontext der fortwährenden Beschleunigung in der und durch die (Medien-)Demokratie.

In dieser Elitisierung spitzt sich eine Entwicklung zu, die in der Genese der Demokratie selbst angelegt ist: die historische Situierung der Demokratie als Rechtsordnung inkorporierte die Ambivalenz der Abhängigkeit der politischen von der ökonomischen Freiheit, da die entstehende bürgerliche Gesellschaft zur Absicherung ihrer Produktions- und Handelsfreiheiten der Garantie durch eine souveräne Zentralgewalt bedurfte, die legitim sein musste, um wirksam sein zu können. Denn die Freiheit des Marktes und die Möglichkeit zum ungehinderten, vor Diebstahl und Raub gesicherten Tausch musste von denen, die an ihm aktiv wie passiv teilnahmen, anerkannt und durch eine gleiche Rechtsordnung gesichert sein. Die Rechtsgleichheit als Kernbestand der Demokratie verfestigte damit auch die jenseits der juristischen Gleichheit liegende soziale (Un-)Gleichheit, da Raub ebenso allgemeinen Sanktionsdrohungen unterstellt wurde, wie das Ermöglichungspotenzial für bürgerlichen Besitz der Ägide der Rechtsordnung.

Da Demokratie als politisches und Markt als ökonomisches Prinzip aber konkurrierenden Ordnungsparadigmen unterliegen, besteht in diesem genealogischen Zusammenhang zugleich auch ein Spannungsverhältnis, das in der Elitisierung von Politik in der Gegenwart zum Ausdruck kommt: Demokratie orientiert auf Ordnung, Markt auf Anarchie – und während Demokratie damit Macht einhegt, setzt der Markt sie frei. Das Machtstreben einzelner Akteure wird damit von der Demokratie beschnitten und vom Markt potenziert. Wenn aber die Regularien für eine Limitierung ökonomischer Prinzipien in einer Gesellschaft minimiert werden (z.B. in ökonomischen Krisen durch Einschnitte im Sozial- oder Bildungswesen), dann beginnen Marktakteure im Kontext der Privatisierung von öffentlichen Aufgaben selbst politisch zu agieren – und diese damit zunehmend der undemokratischen Willkür des Marktes in einem gleichzeitigen Prozess der Elitisierung von Entscheidungen zu unterwerfen.

Hinweise auf weiterführende Literatur und Quellen zum Thema dieses Beitrags finden sich in Samuel Salzborns soeben bei Nomos/UTB erschienen Buch „Demokratie. Theorien – Formen – Entwicklungen“.

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