Die fisseligen Bärte der Politik

Von Marcus Müller

Der Drei-Tage-Bart ist eine umstrittene Sache, nicht nur bei Ärzten. Wie die Wikipedia dankenswerter Weise mitteilt, ist eines seiner Merkmale, „dass die Haut unter den Bartstoppeln noch durchscheint“. Ähnlich ist es bei den Drei-Tage-Politik-Debatten. Sie entspinnen sich gerne am Wochenende, ölen an diesen Tagen die Nachrichtenmaschinen und am Montag ist dann endlich Zeit zu schauen, wie viel Haut noch unter dem medialen Gestrüpp durchscheint. Hallo, Rederecht der Bundestagsabgeordneten!

Was war das für eine Erregung, die sich da aufbäumte. Begonnen mit dem „Maulkorb!“ (Bericht der „Süddeutschen Zeitung“) steigerte sie sich in einen empörten Chor (mit Drohung einer Klage vor dem Bundesverfassungsgericht), glättete sich nur mäßig beim Blick auf die Fakten (Wortmeldung der Fraktionsvorsitzenden); und am Wochenanfang gab es eine ganz neue Lage dadurch, dass die geplante Abstimmung flugs abgesagt wurde. Ein mittlerweile idealtypischer Verlauf.

Zu lernen ist daraus – mal wieder, dafür aber besonders schön und deutlich – zweierlei: Die mediale Erregung und Debatte hat’s oft nicht so mit den Fakten, sondern mehr mit der Meinung, die gerne auch ein Vorurteil sein darf. Und zweitens: Eben jenes Vorurteil über „die“ Politik ist so verheerend, dass ihre Insassen sich tatsächlich langsam sehr dringend Gedanken machen sollten, wie sie diesem begegnet – wenn sie, das ist derzeit viel zu hören, dafür aber nicht falsch, den Piraten das Spiel nicht noch einfacher machen wollen. Und ja, die Politik gibt oft eine jämmerliche Vorstellung, allzu viel Mitleid ist also auch nicht angebracht.

Allerdings, eine kleine Analyse, worum die Aufregung ging, muss schon sein: Die SZ hatte berichtet, dass der Bundestagspräsident nur noch den von den Fraktionen eingeteilten Rednern das Wort erteilen dürfe. So ist das praktisch jetzt schon. Aber: Andere dürfe er, so die Formulierung der SZ, „nur ganz ausnahmsweise“ und nur noch drei Minuten reden lassen. Einmal abgesehen davon, dass es interessant wäre zu erfahren, ob in der auch sprachlich steifen Geschäftsordnung des Bundestages tatsächlich die schöne Wendung „nur ganz ausnahmsweise“ vorgesehen war: Diese Regelung könnte sogar ein Fortschritt sein. Denn bisher ist zumindest auf dem Papier nicht geregelt, dass der Bundestagspräsident überhaupt so genannte Fraktions-Meinungs-Abweicher reden lassen darf. Bislang lässt sich das zwar locker und einleuchtend aus dem Grundgesetz und der Geschäftsordnung interpretieren, es steht dort aber nicht. Ist es nun ein Vor- oder Nachteil, dass diese Möglichkeit noch einmal ausdrücklich aufgenommen wird? Juristen würden die klare Benennung wohl eher gutheißen, weiß man so schließlich doch, worüber man eigentlich redet.

Es ist eine spezielle Sichtweise, wenn die SZ daraus partout einen Maulkorb machen will. Drei Minuten in der Debatte reden (in Ausnahmefällen), gegen: gar nicht reden – das ist von München aus betrachtet also weniger und nicht mehr. Und fast der gesamte Rest der Medien hat diese nur bedingt gedeckte „Meinung“ natürlich nachgeplappert. Keiner knibbelte den Aufkleber „Skandal“ ab, um wenigstens mal zu schauen, was dahinter noch steht. Fast: Die FAZ wies zu Recht darauf hin, dass es Bundestagspräsident Norbert Lammert gelungen sei, der Empfehlung des Ausschusses „politisch gesehen den Vorwurf anzuhängen“, Fraktionsabweicher sollten einen Maulkorb erhalten. (Versucht hatte Lammert das schon vor Ostern, wie die FAZ ebenfalls schreibt, ohne allerdings damit medial so erfolgreich durchzudringen. Das allein lässt schon stutzen.) Ihre Spielchen haben hier also Politik und Medien gleichermaßen betrieben.

Was bleibt, ist eigentlich nur der Kernsatz der SZ-Geschichte: „Das ihm [dem Bundestagspräsidenten] auferlegte Procedere ist kompliziert.“ Richtig, es geht ums „Benehmen mit den Fraktionen“, wann denn ein Abweicher seine drei Minuten hätte bekommen sollen. Aber: so what? Die Organisation der Veranstaltung Bundestag ist eine der Aufgaben des Präsidiums. Ein Bundestagspräsident, der souverän mit Grundgesetz und Geschäftsordnung umzugehen weiß, soll sich davon einschüchtern lassen? Nun ja.

Aus dem Schneider ist „die“ Politik in der Sache aber noch lange nicht. Denn was ist davon zu halten, dass sie erst (in Personen der Altparteien) sagt, so geht’s, um dann doch in rasender Geschwindigkeit das Vorhaben über die Klinge springen zu lassen? Noch dazu, nachdem sie es beim Aufkeimen der Kritik recht klar verteidigt hatten. Und was ist dann also schon wieder von den besinnungslos dahergeplapperten leeren Worthülsen der Verteidigung zu halten? So etwas ruiniert das Ansehen, aber gründlich.

Natürlich ist auch der Hang zu fisseligem Bürokratismus eine Plage, der durch die Poren des umstrittenen Entwurfs scheint. So schlecht scheint die bisherige Geschäftsordnung auch wieder nicht gewesen zu sein, dass sie nun ganz dringend hätte geändert werden müssen. Das Problem damit ist doch ohnehin mehr eins der Praxis: Schon jetzt sagt die Geschäftsordnung in Paragraf 27 und 28, dass der Präsident die Rede erteilt und die Reihenfolge bestimmt. Tatsächlich sind das tote Formalitäten, der Präsident liest nur die von den Fraktionen bestimmte Redner-Reihenfolge ab. Weicht er davon einmal ab, wie im vergangenen Herbst, dann ist aber High Noon im Hohen Haus!

Die Lösung: Ein sehr viel entspannterer Umgang der Fraktionen und der Parteien mit ihrer Macht. Wenn sie von sich aus Abweicher reden lassen würden, was wäre das für ein mächtiges Signal, sich der eigenen Sache sicher zu sein. In so einem Falle dann mal nicht eine orakelnde Hysterie der Medien („Gibt’s die Kanzlermehrheit?“) ertragen zu müssen, wäre auch hilfreich. Soweit die frommen Wünsche für heute.

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