DEUTSCHLAND-Tagebuch: Du Ausländer!

Von Michael Kraske

debattiersalon: Deutschlandfahne, schwarz-rot-gold,Marion Kraske @ 2014Ganz am Ende der Podiumsdiskussion meldet sich ein kleines Mädchen. Sie ist vielleicht acht oder neun Jahre alt, zarte Gesichtszüge, schwarzes Haar, warme selbstbewusste Stimme. „Was mir hier nicht gefällt ist, dass die anderen mich in der Pause Ausländer nennen, weil ich eine andere Hautfarbe habe“, sagt sie. Wenn das passiert, gehe sie zu einem Lehrer, erzählt sie. Der fordere ihre Mitschüler dann auf, das zu lassen. Aber wenn der Lehrer weg sei, gehe es weiter. Ausländer. Ausländer. Das Mädchen spricht fließend und akzentfrei Deutsch. Ihre Mutter, die neben ihr sitzt, trägt ein Kopftuch, modisch schicker Wintermantel. Sie wohnen schon lange in Borna, zwischen Leipzig und Dresden. Das Mädchen hat Freunde in der Schule, aber für einige Kinder ist sie nur: Ausländer. Das tapfere, mutige, hinreißende Mädchen und die eigene Hilflosigkeit, ihr weder helfen noch sinnvolles raten zu können.

Es ist ein kleiner, berührender, trauriger Moment am Ende der Podiumsdiskussion über „Alltag und Rassismus im Landkreis Leipzig“ im Kulturhaus von Borna, aber nicht der schlimmste. Lena Nowak berät für den Verein RAA Sachsen Opfer rechter und rassistischer Gewalt. Sie erzählt über Wurzen, auch so eine kleine Stadt im Leipziger Land, die vor Jahren den Ruf einer Neonazi-Hochburg hatte und um die es seit einiger Zeit ruhig geworden ist. Sie erzählt von einer Straße, in der viele Flüchtlingsfamilien wohnen. Fast jede Woche würden diese Geflüchteten dort von jungen Männern attackiert. Es würden Parolen vor den Häusern gebrüllt, auch mal Steine geworfen. Oder es fliegt ein Böller in eine WG im Erdgeschoss wie im Januar. Die Polizei komme oft spät, Täter würden meistens nicht ermittelt. Die Landtagsabgeordnete Kerstin Köditz von den Linken steuert bei, dass die Aufklärungsquote im Landkreis bei diesen Delikten die schlechteste in ganz Sachsen sei. Nur ein Drittel dieser Gewalttaten würden aufgeklärt. Stattdessen werden Flüchtlinge, wenn möglich, nicht mehr im Erdgeschoss einquartiert.

Gezielte Angriffe auf Wohnungen

Als Moderator frage ich, was das mit den angegriffenen Menschen macht. „Viele haben massiv Angst um Leib und Leben“, antwortet die Opferberaterin. Mütter sind verzweifelt, weil sie ihre Kinder nicht beschützen, Väter, weil sie ihrer Familie keinen Schutz bieten können. Die Täter seien militanter geworden, so Nowak, sie würden ihre Opfer seit einiger Zeit gezielt in deren Wohnumfeld angreifen. Weil das zermürbt. Weil dann nichts mehr sicher ist. „Wir brauchen ganz dringend Schutzräume für diese Menschen“, fordert die Helferin. Aber an diesem Abend ist niemand da, der ihre Forderung umsetzen könnte. Keiner von der CDU, kein Mitglied der Landesregierung.

Im nüchternen Foyer von Bornas Kulturhaus wird deutlich, wie sehr diese Normalität, in der sich rassistische Gewalttäter sicher fühlen dürfen, ungestraft wehrlose Menschen angreifen zu können, aus dem Blick geraten ist. Terror und Trump. Das steht jetzt an. Dass derweil alltäglich und systematisch Würde, Grundrechte und körperliche Unversehrtheit von geflüchteten Menschen angegriffen werden – das ist mittlerweile sehenden Auges übersehene deutsche Normalität. Dazu gehört, dass es politisch hingenommen wird, dass die Polizei in Wurzen und anderswo regelmäßig zu spät kommt, Opfer nicht hinreichend schützt und Täter in vielen Fällen nicht ermittelt. Die Abgeordnete Köditz sagt, sie habe in den sächsischen NSU-Untersuchungsausschüssen Polizisten kennen gelernt, die „völlig demotiviert“ seien. Wer in Sachsen die falsche Haut- und Haarfarbe hat, muss sich bisweilen wie Freiwild fühlen und kann nicht auf wirksamen Schutz und längst nicht immer auf konsequente Strafverfolgung hoffen.

Zwei Angriffe sind nicht genug

Das Leipziger Bündnis chronik.le hat solche Fälle in einer Ausstellung dokumentiert. Schläge und Tritte gegen Körper und Köpfe, Steine und Böller in Fenster von Wohnungen. Lena Nowak erzählt von dem jungen Geflüchteten, der sich nur noch daran erinnern kann, wie er „Am Breiten Teich“ in Borna von einer Gruppe zuerst beleidigt und dann angegriffen wurde. Der sich an vieles danach nicht mehr erinnern kann, weil er so schwer verletzt wurde. Sein Schlüsselbein sei gebrochen worden, berichtet die Helferin. Ärzte hätten ihm eine Metallplatte einsetzen müssen.

Einige Zeit nach dem Überfall sei er am Bahnhof erneut Opfer rassistischer Gewalt geworden. Als Ärzte aufgrund schwerer Kopfverletzungen eine MRT-Untersuchung machen wollten, habe die zuständige Sachbearbeiterin im Amt die Zustimmung verweigert. Begründung: Die Verletzung am Kopf sei nicht akut, sondern aufgrund des zeitlichen Abstands zur Tat chronisch. Und für chronisch sei man nicht zuständig. Staunen und Schaudern im Kulturhaus über diese deutsche Bürokratie.

Heute leide der junge Mann an starken Depressionen, berichtet seine Beraterin vom Opferverein. Das Strafverfahren wegen des ersten Überfalls sei eingestellt worden. Nach der zweiten Gewalttat habe der Mann darum gebeten, in einen anderen Landkreis ziehen zu dürfen. Das Sozialamt habe das abgelehnt. So was reiche als Begründung nicht aus. „Dieser Fall ist total typisch“, sagt Lena Nowak. Kein Einzelfall. Nichts Besonderes. Das alles geschieht unbemerkt. Währenddessen wird jeder neue Tweet von Donald Trump tausendfach kommentiert. Auch bei uns. Es geht jetzt ums große Ganze, da verliert man leicht aus den Augen, was im Kleinen zerbricht.

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