Deutschland in der Krise: “Grüße aus Auschwitz”

Von Marion Kraske

Der österreichische Schriftsteller Robert Menasse hat vor wenigen Tagen auf dem internationalen Mediengipfel in Lech am Arlberg in einer flammenden Rede beklagt, dass in der aktuellen Krise der Europäischen Union die „Idee der Daseinsgeschichte“ der Union gänzlich in Vergessenheit geraten ist. Die Idee nämlich, dass man nach den Geschehnissen des Zweiten Weltkriegs, nach der Monströsität des Holocaust, den Nationalismus, vor allem den der Deutschen – eindämmen, ja gänzlich im Keim ersticken wollte. Diese Erinnerung an das, was die EU einst formte, der ideelle Ansatz, fehle heute in der Union, sagte Menasse. „Man müsste allen, die heute das Europäische Projekt blockieren, die sogar versuchen, uns am eingeschlagenen Weg zurückzudrängen, Ansichtskarten aus Auschwitz schicken, um ihnen vor Augen zu führen, was diese nationalistische Geisteshaltung schon einmal angerichtet hat.”
Grüße aus Auschwitz.
Ein Kontinent, der in den vergangenen Jahrhunderten durch Kriege geschüttelt wurde, fand durch die sukzessive Annäherung der Staaten, durch die Formierung einer gemeinsamen Identität eine Befriedung, ja mehr sogar: Man schaffte dauerhaften Frieden. In der aktuellen Finanz- und Schuldenkrise aber sieht Menasse neuerlich nationalistische Ressentiments hochkommen, vor allem auf deutscher Seite. „Ein neuer Nationalismus ist spürbar“, so der Dichter. Und es ist schon so: BILD und FAZ haben sich in der Debatte um die griechische Verschuldung nationalistischer Untertöne bedient. Und auch Angela Merkel versprühte im Sommer, zu Beginn der griechischen Pleitedebatte, jenes Gift, das auf dem Kontinent augenscheinlich nicht in Vergessenheit geraten ist: Das Gift des deutschen Nationalismus. Indem sie die Griechen, übrigens an den Fakten vorbei, zu den Lauscheppern Europas erklärte und ihnen Urlaubsrekorde vorhielt, die es gar nicht gibt.
Auch wenn Menasse mit seinem Vorstoß kein „Deutschen-Bashing“ verbreitet haben wollte, war der Tenor dennoch klar: Deutschland übe sich in Blockade-Haltung, die nationalen Ausrichtungen der Länder stünden dem wahren supranationalen Leitgedankender der Union im Wege.
Die Worte des österreichischen Schriftstellers zeigen: Es ist wieder so weit, den Deutschen wird wieder Argwohn und Misstrauen entgegengebracht. Das Gespenst des bösen Deutschen wandert umher. Schon wird Merkel in der aktuellen politischen Debatte mit Bismarck verglichen. Eine eiserne Kanzlerin, die das nationale Wohl über das Wohl des Kontinents stellt. Ein Deutschland, das zuallererst sich sieht – und andere überrollt.
An dieser Wahrnehmung ist die Kanzlerin nicht unschuldig: Angela Merkel hat es zugelassen, dass Deutschland wieder als unberechennbar gilt, als ichbezogen, als wenig empathisch für die große, übergeordnete Sache. Der luxemburgische Regierungschef Juncker kritisierte vor dem EU-Gipfel das deutsche Auftreten in der Krise. Die Deutschen sollten nicht denken, „sie müssten als einzig Tugendhafte immer für die anderen zahlen. So ist es nicht”, sagte er. So aber kommuniziert es die Berliner Regierung nach außen.
Ein Mangel an politischer Linie spielt dabei ebenso eine Rolle wie die Unfähigkeit der Regierung Merkel, ihre Positionen den europäischen Partnern auf Augenhöhe zu vermitteln. Das ist die eine Seite.
Andererseits ist vieles an der Deutschen-Kritik derzeit, in Anlehnung an Aristoteles, in Wahrheit eher eine Sache der Perzeption denn der Fakten. Jahrelang war Deutschland zweifelsfrei Zahlmeister der EU. Berlin zahlte, die anderen, nahmen es billigend in Kauf, dass Kompromisse gerne auch mit deutschen Steuergeldern befördert wurden.
Zögert und zaudert die deutsche Seite aber, eine von Angela Merkels Primärtugenden, wie sie es in der ersten Phase der Schuldenkrise machte, weil sie die Probleme in der ihr eigenen Art in tagesaktuell-justierten Taktikhäppchen denn in übergeordneter strategischer Gesamtausrichtung anging, kommt flugs der Vorwurf der Blockadehaltung auf. Madame No wird zum Inbegriff der bösen Deutschen, die das gemeinsame Projekt Europa gefährdet. Nimmt Merkel freilich das Heft in die Hand wie dieser Tage und präsentiert – zusammen mit dem französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy die Leitlinien für eine künftig auszugestaltende Euro-Wirtschaftsregierung mit drastischen Strafmaßnahmen für Haushaltssünder, kursiert der Vorwurf vom deutschen Diktat, von einem von Deutschland unterjochten Europa.
Ein Dilemma zeichnet sich ab. Kann es Deutschland dem Ausland momentan überhaupt recht machen?
Und doch: Es gibt auch wohlmeinende Gegenstimmen, wie die des polnischen Außenministers Radolslav Sigorski etwa, der jüngst erklärte: „Ich fürchte die deutsche Macht weniger als die deutsche Untätigkeit. Sie sind Europas unverzichtbare Nation geworden. Sie dürfen bei der Führung nicht versagen. Nicht dominieren, sondern bei Reformen führen.“
Schließlich ist es kein Geheimnis, das außer dem deutsch-französischen Duo derzeit keine Protagonisten weit und breit in der Lage und willens sind, aktiv daran mitzuwirken, Europas Krise zu überwinden und die Integration der Gemeinschaft voranzutreiben. Der aktuelle Gipfel ist ein weiterer Beleg dafür. Wer sollte das auch sein? Der euroskeptische Brite David Cameron, der wieder einmal Sonderkonditionen für sein Sonderzonen-Inselreich erstreiten will? Der demokratiezersetzende Viktor Orban, unter dem Ungarn von der einst lustigsten Baracke des Ostblocks zur traurigsten der EU wurde, wie es der ungarische Journalist Laszlo Benda auf dem Lecher Mediengipfel nannte? Oder etwa der Totalausfall der Europäischen Politik, Werner Faymann, Österreichischer Bundeskanzler, der bislang weder im Alpenland selbst noch im Ausland durch substantielle Äußerungen auffiel?
In eben dieses personelle und ideelle Vakuum dringen Merkel und Sarkozy nun vor. Auch wenn Experten monieren, dass der nun präsentierte Lösungsansatz Merkels und Sarkozys unzureichend ist, so ist die deutsch-französiche Führerschaft zum gegenwärtigen Zeitpunkt doch alternativlos. Die Bedenken freilich, die einem vermeintlich unberechenbaren Deutschland entgegengebracht werden, müssen in Berlin ernst genommen werden. Merkel hat durch ihr unstetes Gebaren im Kreise der EU-Partner Vertrauen eingebüßt. Damit hat sich die Bundesregierung auf einen gefährlichen Pfad begeben. Berlin muss sich daher mit aller Anstrengung wieder als verlässlicher Partner positionieren. Andernfalls versinkt Europa in einem Morast, den es eigentlich zu überwinden galt: Im giftversprühenden Ressentiment.

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