Von Michael Kraske
Was als Krimi um die „Zwickauer Terror-Zelle“ begann, ist schon jetzt eine Staatsaffäre. Unter den Augen des Thüringer Verfassungsschutzes haben sich Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt nicht nur von rechten Straßenschlägern zu Bombenbauern und Bombenlegern entwickelt. Unter den Augen der Geheimdienstler sind die drei Neonazis nicht nur abgetaucht. Schon jetzt steht fest, dass der Staat Aufbauhilfe für die Brutstätte der späteren Rechtsterroristen leistete.
Denn Tino Brandt, der Chef des „Thüringer Heimatschutzes“, jenes Bündnisses aus Thüringer Kameradschaften, das in den 90er Jahren Städte wie Jena mit Straßenterror überzog, war schon früh als V-Mann für den Verfassungsschutz tätig. Später räumte er ein, die Spitzelhonorare in Aktionen der Neonazis investiert zu haben. Insgesamt sollen in den 90er Jahren über eine Million Mark vom Staat an Thüringer V-Leute gezahlt worden sein. Opfer jener Zeit berichten, wie die rechten Schläger in Jena Jagd auf sie machten, wie sie mit Keulen und Fäusten prügelten, Zigaretten auf der Haut ihrer Feinde ausdrückten. Allein die Analyse dieser Thüringer Verhältnisse rechtfertigt es, nicht nur von Versagen zu sprechen, sondern von systematischer Staatsbeteiligung am Aufbau einer rechtsextremen Terror-Bande.
Dazu kommen die diversen Pannen bei den Ermittlungen. Laut MDR-Recherchen standen Thüringer Fahnder kurz vor dem Zugriff auf das untergetauchte Trio in Chemnitz, wurden aber zurückgehalten. Wer hat das zu verantworten? Was war das Motiv? Nach und nach wird auch sichtbar, dass die Untergetauchten auf ein Netz aus Unterstützern zurückgreifen konnten. Die ehemaligen Kameraden vom „Thüringer Heimatschutz“ geraten nun ebenso ins Visier wie Personen in Sachsen. Da ist Matthias D. aus Johanngeorgenstadt, auf dessen Namen die Wohnung des Trios in Zwickau angemeldet war. Andere sollen mit Ausweisen und Bahncards sowie bei der Anmietung von Fahrzeugen geholfen haben. Das Untergrund-Leben, das ohne logistische Unterstützung undenkbar ist, sowie die sich ausweitende Zahl mutmaßlicher Unterstützer rückt die Arbeit von Ermittlern und Verfassungsschutzbehörden gleichermaßen ins Zwielicht. Jetzt muss geklärt werden, wer was wusste. Und wer warum nichts wusste. Wie konnte sich die Spur angeblich ausgerechnet in Chemnitz verlieren, wo Mundlos und Böhnhardt über Jahre Banken überfielen? Ausgerechnet in der Nachbarstadt von Zwickau, wo das Trio offenbar über Jahre lebte?
Die dubiosen Fehler und Eskapaden staatlicher Stellen aufzudecken hat Priorität, aber zugleich besteht die Gefahr, dass die Fixierung auf Terror und V-Leute vom ganzen Ausmaß der Affäre ablenkt. Die Berliner Politik zeigt die bekannten Reflexe: die unreflektierte Forderung nach einem neuen NPD-Verbotsverfahren. Dazu ein neues Anti-Terrorzentrum mit einer zentralen Neonazi-Datei.
Das Krisenmanagement der Bundesregierung zeigt, dass noch immer wenig für ein realistisches Lagebild spricht. Die Schwelle der Aufmerksamkeit liegt jetzt auf Terror. Deutschland hat es aber mit einem mehrdimensionalen Neonazi-Komplex zu tun. Das geflügelte Wort, auf dem rechten Auge blind zu sein, verkennt, wie systematisch Staat, Polizei, Justiz und Politiker von der Bundeskanzlerin bis zum Bürgermeister die permanente rechte Gewalt und die Verbindungen zwischen NPD und lokalen freien Kameraden ignoriert haben. Die NPD hat Aktivisten der Kameradschaftsszene systematisch mit Funktionen ausgestattet. In Doppelfunktion treten diese mal als NPD-Kader, mal mit den freien Kräften in Erscheinung. Als Scharnier fungiert die NPD-Jugendorganisation JN. Zudem sind die Freien Kameradschaften, die lokal verankert sind, über die Freien Netze überregional mit Neonazis aus ganz Deutschland verbunden. Das erhöht sowohl ihre Mobilisierungsfähigkeit als auch die Schlagkraft. Es gibt gute Gründe für ein NPD-Verbot. Aber vorher bedarf es der Analyse.
Rechtsextremisten traten in den vergangenen Jahren zwar selten offensichtlich terroristisch auf, gleichwohl aber mörderisch. Richter scheuen sich davor, menschenverachtende Ideologie als Tatmotiv anzuerkennen. Sie schließen aus der Zufälligkeit der Täter-Opfer-Begegnung darauf, dass die später Ermordeten wahllos zu Opfern werden. Sie verkennen, dass Migranten, Linke oder Obdachlose exakt ins starre rechte Freund-Feind-Schema passen. So kommt es, dass offiziell 46 Menschen als Opfer rechter Gewalt seit der Wiedervereinigung gezählt wurden, Rechercheure der Amadeu Antonio Stiftung aber 182 Opfer rechtsextremer und rassistischer Gewalt ermittelten. Wenn Migranten oder Obdachlose von Rechtsextremisten ermordet werden, finden Richter bisweilen abenteuerliche Begründungen, um das rechte Motiv vernachlässigen zu können. Da wird einem Täter dann bescheinigt, er habe den Schlafplatz seines Opfers auf einer Parkbank „spontan als ungeeignet“ empfunden und daher zugeschlagen. Aktuell wurde der Fall des Obdachlosen Andre K. im sächsischen Oschatz, der von drei Männern totgeprügelt wurde, von der Staatsanwaltschaft nur als gefährliche Körperverletzung mit Todesfolge angeklagt. Mindesteins einer der Beschuldigten soll Verbindungen zur rechten Szene haben. So wird das politische Tatmotiv oft schon bei den Ermittlungen vernachlässigt.
Bielefelder Soziologen haben den sperrigen Begriff der „gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“ entwickelt. Er beschreibt sehr genau, wie Menschen aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer als minderwertig verinnerlichten Gruppe zu Mordopfern werden. Das ist der Kern der rechtsextremen Ideologie der kollektiven Ungleichheit. In Bund und Ländern geben sich die regierenden Politiker seit langem alle Mühe, die Fallzahlen rechter Gewalt klein zu halten. Die Angst vor der Stigmatisierung als „braunes Nest“ ist dafür ebenso ein Motiv wie die Ideologie vor allem in der CDU, wonach nicht Rechtsextremismus die größte Gefahr für die Demokratie ist, sondern der Linksextremismus. Über brennende Autos in Berlin wurde zuletzt wild spekuliert, von neuem linken Terror war die Rede. Die Brandanschläge auf linke Berliner Einrichtungen dagegen blieben weitgehend unbeachtet.
Es ist eine bittere Ironie, dass Sachsen ausgerechnet den Jenaer Stadtpfarrer Lothar König seit Monaten wie einen Staatsfeind behandelt. Inklusive rambohafter Razzia in dessen Thüringer Gemeindezentrum. Die Dresdner Staatsanwaltschaft wirft ihm nicht nur vor, am Rande der Anti-Nazi-Demo im Februar zu Gewalt gegen Polizisten aufgerufen zu haben. Vielmehr soll der Pfarrer auch eine kriminelle Vereinigung angeführt haben, jene ominöse „Antifa-Sportgruppe“, die für Angriffe auf Neonazis verantwortlich sein soll. König bestreitet das. Er und seine Junge Gemeinde in Jena wurden in den 90er Jahren mehrfach von der Jenaer Kameradschaft um Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt angegriffen. Er selbst brutal zusammen geschlagen. König war einer der ersten, der sich den Neonazis in Jena offen entgegenstellte. Seine kompromisslose Haltung hat auch damit zu tun, dass er Nazigewalt und staatliches Zaudern über Jahre am eigenen Leib zu spüren bekam. Jetzt ist König, der unbequeme Querdenker, der gern in Sandalen und mit Rauschehaar in der Pose des Nonkonformisten auftritt, plötzlich gefragter Gesprächspartner von Tagesthemen bis Aspekte. Der Fall König zeigt, welche Priorität im Land bis heute herrscht. Für CDU und FDP steht der Feind links, nicht rechts.
Die organisierte, heimtückische Mordserie ist eine neue Qualität rechter Gewalt, die vor kurzem noch undenkbar schien, auch wenn bei Kameradschaften immer wieder Waffen und Rohrbomben gefunden wurden. Es gibt aber nicht nur Unterschiede zwischen den eiskalt planenden Rechtsterroristen und rechten Spontantätern. Beiden gemein ist, die Tat für sich sprechen zu lassen. Über Jahre mordeten die Terroristen ohne Bekenntnis, bevor sie mit ihrem zynischen Video offenbar an die Öffentlichkeit treten wollten. Sowohl der terroristische Serienmord als auch der mörderische Gewaltexzess, der scheinbar beiläufig die günstige Gelegenheit nutzt, enthalten die Botschaft: Deutschland wird von denen „gereinigt“, die zur „Vermischung der Völker“ und damit zum „Genozid“ beitragen. Ein Gewaltpotential, das vor Mord nicht zurück schreckt, existiert in der rechten Straßenszene seit Jahren.
Bislang bleibt nahezu unberücksichtigt, dass der Weg der drei Haupttäter in den Rechtsterrorismus ein Prozess war, der in der Kameradschaftsszene mit Straßenterror begann. In den ostdeutschen Bundesländern werden seit Jahren Dönerbuden angezündet, örtliche Neonazis ziehen „Sieg heil“ grölend durch Kleinstädte, verfolgen dort systematisch politisch Andersdenkende und greifen deren Wohnhäuser an. Zerstören deren Autos und Vereinsheime und schlagen Opfer beinahe tot. Die Polizei ist vielerorts derart ausgedünnt, dass sie die ritualisierte rechte Straßengewalt zu lange gewähren lässt. Gerade in Sachsen. Dort berichten Opfer rechter Gewalt davon, dass die Polizei erst nach einer Dreiviertelstunde oder gar nicht kommt. Bürgermeister denunzieren die Opfer zudem als Nestbeschmutzer und Provokateure. Die Gegenspieler der Neonazis wurden von CDU-geführten Regierungen, allen voran Familienministerin Schröder, mit dem Extremismus-Verdacht überzogen. Als konservative Gesinnungswaffe setzt sie die Extremismusklausel ein, die aufrechte Demokraten unter Generalverdacht stellt.
Rechte Schläger werden hingegen von Gerichten spät oder gar nicht verurteilt. Seit Jahren gibt es eine Diskrepanz zwischen den offiziellen Tatzahlen für politisch motivierte Gewalt von rechts und den Zahlen, die Opferberatungsstellen zusammen tragen. Die liegen seit Jahren doppelt so hoch. Im Zweifel ordnen Beamte eine Körperverletzung lieber nicht der politischen Kriminalität von rechts zu. Politiker, Richter und Polizisten haben zu einer Praxis beigetragen, die das wahre Ausmaß des rechten Alltagsterrors verschleiert.
Die Terrordebatte greift aber zu kurz. Die noch immer verdrängte Dimension des Neonazi-Komplexes sind die rechtsextremen Einstellungen in der Bevölkerung. Mehr als die Hälfte der Ostdeutschen denkt latent oder gefestigt fremdenfeindlich, so Studien der Friedrich-Ebert-Stiftung. Die Bielefelder Forschungsgruppe zur gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit hat zudem ermittelt, dass vor allem die Mittel- und Oberschicht den Menschenhass auf Minderheiten mehr und mehr verinnerlicht. Besonders bei denen materiell Sorgenfreien bröckelt die Solidarität. Thüringen und Sachsen erreichen bei diesen Untersuchungen zum kollektiven Menschenhass traurige Spitzenwerte. Manches Schweigen der Mehrheitsgesellschaft zu rechter Gewalt läst sich auch darauf zurück führen, dass Neonazis und Normalbürger bisweilen gleiche Feindbilder haben.
Die Sehnsucht nach gesellschaftlicher und sozialer Gleichheit hat vor allem in Ostdeutschland eine gefährliche Dialektik. Denn die Kehrseite des Gleichheits-Ideals ist die Ablehnung von Pluralismus. So stören sich Bürgermeister in Kleinstädten eher an bunthaarigen Gegnern der Neonazis, die das rechte Problem beim Namen nennen, und weniger daran, dass der vordergründig unauffällige Neonazi-Nachwuchs ihre Stadt mit der Forderung nach Nationalem Sozialismus überzieht. Für beide Ideologie-Säulen, den Nationalismus und die Vorstellung eines Sozialismus für Deutsche, finden die Neonazis breite Sympathie. Die NPD wird nicht trotz, sondern wegen ihrer radikalen Ideologie gewählt.
So eindeutig die staatliche Repression versagt hat, so wichtig jetzt Aufarbeitung und Konsequenzen folgen müssen, so fatal wäre es, die Prävention jetzt als Weichei-Sozialarbeitertum zu vernachlässigen. Als der Kriminologe Pfeiffer vor Jahren verbreitete, dass jeder 20. männliche Jugendliche angebe, einer rechten Gruppe anzugehören, wurde seine Warnung als sachlich falscher Alarmismus abgetan. Die NPD-Wahlerfolge unter männlichen Jungwählern sprechen eine andere Sprache. Rechtsextremismus und die Verherrlichung des Nationalsozialimus sind vielerorts gelebte Jugendkultur. Was aber Normalität ist, lässt sich gesellschaftlich kaum mehr bekämpfen.
Zeiten des Terrors sind Zeiten der Hysterie. Politisch und medial. Die Bundesregierung wird versuchen, die Terror-Affäre zu nutzen, um neue Strukturen der Sicherheitsbehörden zu schaffen. Das Kalkül ist, sich auf dem Kerngebiet der Inneren Sicherheit zu profilieren. Eine ehrliche Ursachenforschung ist unwahrscheinlich, weil das eklatante Versäumnisse der CDU-geführten Landesregierungen aufdecken würde. Wer aber über Rechtsextremismus nicht sprechen will, soll bei Terror schweigen. Die Medienlawine wird, wie immer bei rechten Sensationsgeschichten, wenige Wochen lang heftig im braunen Sumpf rühren. Dann wird wieder trügerische Ruhe sein. Der permanente Skandal des Rechtsextremismus mit seinen gefährlichen Netzwerken und der ritualisierten Gewalt, aus der rechter Terror erwuchs, wird deutscher Alltag bleiben.
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Kudos! What a neat way of tihnking about it.