Der Krieg ist nicht vorbei! – Neues von der deutschen Angst

Von Martin Häusler

Zuerst war es Hitler selbst, dann waren es Hitlers Helfer, danach kam die Flucht, das brennende Dresden, die sinkende Gustloff, die Kriegsheimkehrer, die Kriegskinder, gerade laufen „Die Geheimnisse des Dritten Reichs“ im ZDF, und bald ist Rommel dran. Ob als Spielfilm oder als Dokumentation: Die eigene Geschichte ist seit Jahren verlässlicher Quotengarant im deutschen Fernsehen. Selbst auf den Titelseiten politischer Magazine konnte man vor allem gute Erfahrungen mit Themen aus Dunkeldeutschland machen. Über die Jahrzehnte wurden die Texte und Filme spezieller, das Spektrum wurde ganzheitlicher, und viele meinten deshalb sagen zu können, dass der Zweite Weltkrieg nun doch endlich und endgültig verarbeitet worden sei.
Blickt man auf das, was Psychotherapie und Psychologie zuletzt herausgefunden haben, kann man nur erstaunt feststellen, dass diese Annahme einem Irrtum aufsitzt. Denn das völlige Gegenteil scheint der Fall. Der Krieg ist nicht vorbei. Er ist in uns. Er gärt in uns. Er macht uns heute – 66 Jahre nach kalendarischem Ende – immer noch krank, bildet körperliche und psychische Leiden aus, sorgt für den Großteil unserer Ängste, treibt uns in Süchte und nimmt uns die Fähigkeit zu lieben. Wie das?

Die so berühmte deutsche Angst, diese Angst, die uns heute so sehr im Nacken sitzt wie selten zuvor, diese Angst, die uns glauben machen will, dass wir verloren sind, wenn wir etwas verlieren, diese Angst vererbt sich.
Blick zurück: Annähernd jede deutsche Familie wurde im vergangenen Jahrhundert traumatisiert. Durch die beiden Weltkriege – also durch das direkte Erleben von Massenmord, Flucht, Vertreibung, Vergewaltigungen, Bombenangriffen und Verlust von Verwandten – haben die Deutschen als Täter- und Verlierervolk zugleich emotionale Schocks erlitten. Anstatt sie jedoch aufzuarbeiten, sich ihnen mutig zuzuwenden, in den Familien darüber zu sprechen, wurden sie Jahrzehnte lang verdrängt und tabuisiert, während man sich ausschließlich dem materiellen Wiederaufbau widmete. Der geistige Wiederaufbau wurde verpasst, die Traumata überlebten – nicht nur in der Erinnerung, sondern in unseren Genen.
Zu dieser Erkenntnis sind Psychotherapeuten wie Gabriele Baring gekommen. Die Berlinerin beschäftigt sich seit zehn Jahren in praktischer Patientenarbeit mit dem Phänomen der deutschen Angst. „Wir können heute aus einer Zelle ein Schaf klonen“, erklärt sie. „Das heißt, in einer Zelle stecken sämtliche Informationen. Ich behaupte, in dieser Zelle sind nicht nur die Informationen, die es braucht, um ein körperliches Wesen entstehen zu lassen. Es sind alle Informationen enthalten. Diese Informationen tragen wir bereits im Mutterleib in uns. Da diese Informationen in uns vorhanden sind, vom Bewusstsein aber nur das uns Bekannte erfolgreich bearbeitet werden kann, wird sich Schwieriges und Ungelöstes möglicherweise als Trauer, Angst, Wut oder Hass äußern. Gelingt es nicht, diesen Gefühlen zu entrinnen, kann das alle Arten von Symptomen nach sich ziehen und bis in den mehr oder weniger aktiv betriebenen Selbstmord führen.“
Mit derartigen Äußerungen steht Baring, die gerade ihr Buch „Die geheimen Ängste der Deutschen“ veröffentlichte, längst nicht mehr allein. Inzwischen zieht auch die etablierte Wissenschaft solche Zusammenhänge in Betracht. So verblüffte Professor Peter Gruss, Präsident der Max-Planck-Gesellschaft, im Juni mit einer ungewöhnlichen Festrede sein Publikum. Als Thema hatte er sich aus aktuellem Anlass die berühmte deutsche Angst ausgesucht. „Das neue Forschungsfeld der Epigenetik befasst sich mit umweltbedingten Einwirkungen auf die Funktion des Genoms“, erklärte Gruss anhand eines Projektes des Planck-Instituts für Psychiatrie, und sogar Angela Merkel staunte in der ersten Reihe bei diesen Worten. „Tatsächlich können Faktoren wie Stress, Ernährung oder eben Traumata die Eigenschaften einer Zelle und damit den Organismus durch chemische Modifikation des Erbmaterials beeinflussen“, so Gruss. „Die Änderungen können sich auch auf die Nachkommen auswirken.“
Das muss man sich einmal vorstellen: Nach diesen Aussagen und Erkenntnissen wäre ein ganzes Volk von zig Millionen Menschen von einer Art inneren Zersetzung bedroht. Die großen Volkskrankheiten wären zu einem Großteil unwissentlich durch die Vergangenheit geprägt. Und Therapeuten wie Baring sehen in dem alten Ballast sogar den Grund für die Entscheidung abzutreiben, immer weniger Kinder in die Welt zu setzen oder keine Verantwortung mehr für eine eigene Familie zu übernehmen.
Sind die Ängstlichen, Depressiven, Frustrierten, Wütenden und Kranken von heute nun wehrlose Opfer, denen nichts anderes übrig bleibt, als ihr genetisches Schicksal zu ertragen? Nein, sagt Baring und fordert auf, sich auf eine Recherche-Reise in die eigene Historie zu machen, Gespräche zu führen, Tabus anzusprechen, die dunklen Punkte aufzulösen. „Beschäftigt euch mit eurer Familiengeschichte!“, appelliert sie. „Stellt euch in die Schuhe eines jeden! Schließt das Böse nicht aus! Schaut liebevoll auch auf die, die sich etwas zu Schulden haben kommen lassen! Schaut auf den Menschen, nicht auf die Taten! Spalte ich meine Familie von mir ab, kann ich nur krank werden oder zumindest sonderbar. Es gehören die dazu, die Helden waren, und es gehören die dazu, die keine Helden waren.“
Baring hat unzählige Leiden, die mit den Traumata der Ahnen zusammenhängen, behandeln können. Techniken wie die Familienaufstellung (eine Art energetischer Familientherapie mit Stellvertreterpersonen) oder das Genogramm (die Erstellung eines möglichst kompletten Familienstammbaums inklusive emotionaler Verbindungen) seien laut Baring in der Lage, die Traumata aufzulösen, Heilung zu erlangen und so der Selbstzersetzung eines ganzen Volkes Einhalt zu gebieten.
Das Schicksal der Schauspielerin Esther Schweins ist eines von vielen Beispielen für diese bisher unbeachteten Zusammenhänge. Schweins litt die ersten 20 Jahre ihres Lebens fast jede Nacht unter den zwei immergleichen Albträumen. Als ihre Mutter sie endlich danach fragte und Schweins detailliert davon erzählte, brach es aus der Mutter heraus. Das, was ihre Tochter all die Jahre geträumt hatte, waren haargenau ihre beiden Kriegstraumata – der Bombenangriff aufs eigene Haus und das Verschwinden der jüdischen Kinder. Die Mutter hatte nie davon erzählt. Die sie so beeinträchtigenden Informationen waren in der Tochter bereits vorhanden.
„Ich habe die zwei Träume nach diesem Gespräch nie wieder geträumt“, sagt Schweins. „Ich habe mit meiner Mutter viele Tränen geweint. Endlich!“
Es war der wohl dringend notwendige Bruch des Schweigens innerhalb der eigenen Familie, ein Bruch, der mehr auflöste, als eine Hitler-Doku von Guido Knopp

Martin Häusler, „Fürchtet euch nicht! Die Vertreibung der deutschen Angst“, Scorpio Verlag, 320 Seiten, 19,95 Euro

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4 Antworten auf Der Krieg ist nicht vorbei! – Neues von der deutschen Angst

  1. Sven sagt:

    Eigentlich lese ich Eure Kommentare gerne, habe auch gleich heute (war ne Woche weg) wieder alles gelesen, was für mich neu war – prima, das meiste.
    Bis auf dieses verquaste Esoterik-Stück über die deutsche Angst, das wohl vor allem das Buch des Autors puschen soll (ein bisschen peinlich, dass der das selber macht, finde ich).
    Dass wir noch nicht alles kennen, was sich im menschlichen Genom versteckt, glaube ich gerne. Aber wieso ausgerechnet “deutsche” Angst? Haben die Russen in den Weltkriegen nicht weit schlimmer leiden müssen als die Deutschen? Warum nicht afrikanische Angst, macht der Kontinent doch bis heute durch Sklaverei, Kriege, Katastrophen und wirtschaftliche Not seit Jahrhunderten unvergleichlich mehr durch als nahezu alle anderen Weltregionen. Die monokausale Zuordnung des Begriffs der “deutschen” Angst zum kumulierten Erleben zweier Weltkrieg ist nicht nur wenig überzeugend, sondern liefert ganz schlicht einfach keine auch nur annähernd überzeugende Erklärung dafür, warum ausgerechnet die Deutschen mittlerweile von aller Welt mit ihrer Angst zitiert werden. Wo bleibt der Bezug zur deutschen Romantik mit ihrer Gemütsschwere, die sicher auch Grundlage abgibt für das, was heute “deutsche Angst” genannt wird. In seiner Scheuklappen-Sicht grenzt dieser Beitrag leider an “Spökenkiekerei”, wie wir hier hoch im Norden sagen.
    Kleiner Tipp: Wenn man so ein Buch besprechen will, hätte man einen unabhängigen Autor daran setzen sollen – ohne Furcht aber mit (viel)Tadel.

  2. Lynda sagt:

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  3. nvsvthdf sagt:

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  4. Siraj sagt:

    Come al sotilo quando si accusa la Chiesa di essere ricca, la si difende dicendo che Gesù non condannava la ricchezza ma il suo uso distorto : lo so che è meglio un ricco umile che un povero egoista ed arrogante, ma dove lo trovi un ricco umile?Non a caso Gesù disse che ” è più facile che un cammello entri nella cruna di un ago……….”.Non a caso Gesù scelse di nascere e vivere povero : avrebbe potuto scegliere di nascere ricco e insegnarci come usare la ricchezza,non vi pare?Ma come fate a conciliare il Vangelo con una Chiesa che si identifica in uno Stato con propri ambasciatori, un sovrano assoluto e a vita, ecc. ecc.?Volete capirlo che Gesù è stato condannato a morte proprio dal potere religioso e questo stesso potere religioso ha continuato a farlo addirittura in Suo Nome?!?!?!?!Non esiste al mondo Capo religioso, sia in seno al Cristianesimo sia fuori in altre religioni, che sia contemporaneamente anche Capo politico di uno Stato e con un proprio territorio e con tutti gli altri accessori propri di uno Stato.Volete capirlo che lo Stato della Città del Vaticano è un residuo di quel potere temporale durato fino a poco più di un secolo fa e che ha fatto e che continua a fare tanto male alla Chiesa (quella veramente fondata da Gesù e fatta da coloro che Lo accolgono nella loro vita) e del quale residuo pertanto dovremmo auspicare la completa scomparsa?Durante da S. Govanni Valdarno