“China, China, China” oder wir bauen uns einen Papiertiger

Von Siegesmund von Ilsemann

Es war der Spiegel, der das bundesdeutsche Wahlvolk 1969 mit einer der bekanntesten Plattheiten des damaligen Kanzlers der Großen Koalition Kurt Georg Kiesinger amüsierte. „Ich sage nur China, China, China“ – mit hartem K – hatte der schwäbische Schöngeist auf dem Dortmunder Wahlkonvent der CDU orakelt. Ein platter Versuch, die jahrzehntelang von den Christdemokraten geschürte Kommunisten-Angst ein weiteres Mal für einen Sieg gegen Moskaus fünfte Kolonne, die Sozialdemokraten, zu mobilisieren. Der Schuss ging nach hinten los – Kiesinger hatte die Lacher nicht auf seiner Seite.

Gut vier Jahrzehnte später geht eben derselbe Spiegel-Verlag mit China-Bangemache auf Leserfang. „China plant Offensive mit Militärsatelliten“ warnte jetzt Spiegel-Online (SPON) vor der „gelben Gefahr“, die einst die Kalten Krieger alarmierte. Oh je, barmt da der unbefangene Leser, sind Maos Erben bereits aufgebrochen, die freie Welt zu unterjochen? Immerhin listet der Duden zu „Offensive“ gleich Dutzende Bedeutungen auf, die Angst machen können. Der Begriff für eine „den Angriff bevorzugende Kriegführung“ bedeutet synonym auch Anschlag, Attacke, Überfall, Überraschungsangriff, Handstreich, Überrumpelung, Vorstoß, Feld- oder Kriegszug, Bewegung der Truppe zum Zweck des Angreifens, Invasion. Wer sich bei derlei martialischem Wort-Gewitter nicht Sorgen macht um Deutschlands Zukunft und die der Welt, der muss ganz offensichtlich gutmenschlich verblendet sein.

Spiegel Online belässt es nicht bei der ominösen Schlagzeile. Peking modernisiere „sein Militär mit atemberaubendem Tempo“ heißt es im Vorspann, verfüge wohl bald schon über Raketen, die „zur tödlichen Gefahr für amerikanische Flugzeugträger werden könnten“.

Untrügliche Anzeichen für die perfide Aufrüstung wurden ausgemacht – China „gibt sich keine Mühe mehr, seine ambitionierten Waffenprogramme zu verbergen“. Historisch fanden bislang die Ideologen des Kalten Krieges nur ein noch untrüglichereres Indiz für friedensgefährdende Aufrüstung – die strikte Geheimhaltung von allem was sich im und ums Militär herum ereignet. Das jedenfalls wurde jahrzehntelang den roten Sowjet-Zaren vorgehalten.

Aber Peking macht es uns heute ja – zum Glück – leichter: Es lässt sich in die Karten schauen. Und was sieht Spiegel-Online dort: „erste Testflüge eines Stealth-Kampfjets“ etwa oder einen Flugzeugträger, der – welche Frechheit – „mitten im Hafen von Dalian einsatzbereit“ gemacht werde und schon in den „nächsten Tagen oder Wochen zu seiner Jungfernfahrt aufbrechen“ könnte.

Eine wahrhaft bedrohliche Entwicklung erproben die Chinesen doch jetzt schon eine Tarnkappen-Technik, die in den USA gerade erst – nämlich vor drei Jahrzehnten – in Dienst gestellt worden ist. Und dann dümpelt da noch ein Flugzeugträger, übrigens ein Uralt-Rohbau aus dem Sowjet-Nachlass, mit dem Moskau nichts mehr anzufangen wusste. Nach Größe und technischer Ausstattung liegt er Generationen hinter dem Entwicklungstand westlicher Träger.

Von den 85 solcher Großkampfschiffe, die bereits das Sternenbanner am Heck führten, stehen derzeit noch elf im Dienst der USA, zwei weitere sind im Bau. Zu wirkungsvollen Mitteln der Machtprojektion, die US-Trägerflotten fortwährend auf den Weltmeeren rund um den Globus demonstrieren, werden diese Saurier der Seekriegsführung allerdings erst, wenn sie durch eine ganze Armada von Begleitschiffen geschützt werden. Atom-U-Boote, die jede feindliche Annäherung an den milliardenteuren Mammut-Pott weit jenseits des Horizonts torpedieren können; Ägis-Kreuzer und –Zerstörer, die über hunderte Kilometer jedes Feindflugzeug entdecken und mit Hochgeschwindigkeitsraketen vom Himmel holen können. Nichts Vergleichbares können Pekings Admiräle in See stechen lassen. Ohne einen solchen Schutzschirm sind Flugzeugträger jedoch kaum mehr als schwimmende Särge.

Doch nun droht gelbe Gefahr auch aus dem All. Chinesische „Himmelspäher könnten feindliche Einheiten in Echtzeit verfolgen und – das ist der zentrale Punkt – ballistische Raketen ins Ziel lenken“, zitiert SPON aus einem amerikanischen Strategie-Journal. „Die USA sehen dadurch ihren Machtanspruch im Pazifik bedroht, der in erster Linie mit Flugzeugträgern demonstriert und durchgesetzt wird“, resümiert der Online-Stratege, als besäßen die USA einen Rechtsanspruch darauf, den Stillen Ozean als ihr Binnengewässer anzusehen.

Flugzeugträger der USA kreuzen bedrohlich vor fremden Küsten, ihre Spionagesatelliten können aus dem Weltall die Schlagzeilen von Zeitungen entziffern und ihre elektronischen Himmelsspäher belauschen weltweit den Telefonverkehr, lesen Emails und durchforsten das Internet. Da scheint es weder erstaunlich noch verwerflich, dass die bevölkerungsreichste Nation der Erde, nächst den Vereinigten Staaten der Welt viertgrößter Flächenstaat, nach Wegen und Mitteln sucht, den gewaltigen Vorsprung zu verringern, den sich Washington billionenteuer zusammengerüstet hat.

Chinas Führer werden viel Geduld benötigen, bis dieser Vorsprung aufgeholt ist. Mehr als 600 Milliarden Dollar spendierten die USA allein 2010 ihren Militärs, die Chinesen zwei Jahre zuvor, die letzte verfügbare Zahl, gerade mal 84,9 Milliarden.

Doch laut Spiegel Online „plant“ China trotz dieser gewaltigen, in absehbarer Zeit kaum einholbaren Differenz „eine Offensive mit Militärsatelliten“. Irgendeinen Beweis für Pekings angebliche Angriffspläne, sucht man in dem Artikel indes vergebens. Ein paar magere Fakten, die bestenfalls belegen, dass die Chinesen sich bemühen, ein ganz klein wenig von dem gewaltigen Rüstungsvorsprung der Supermacht USA abzuknapsen und ein paar wilde Spekulationen – fertig ist das Bedrohungsszenario.

Angesichts des realen Kräfteverhältnisses könnten in Peking nur Selbstmörder Offensivpläne schmieden – oder Panikmacher in Hamburg sie erfinden. Vielleicht sollten letztere ihre Aufmerksamkeit lieber Aktivitäten statt angeblichen Planungen schenken: Es sind keine chinesischen Truppen, die am Hindukusch und im Irak völkerrechtswidrige Kriege führen; es sind keine chinesischen Drohnen, die in vielen Teilen der Welt Mordanschläge verüben, denen immer wieder auch Unschuldige zum Opfer fallen; und Guantanamo ist kein chinesischer Folterknast.

China, mitnichten ein Musterland für Demokratie und Menschrechte, ist zumindest in einer Hinsicht ehrlich: Es fordert diese Tugenden nicht immer wieder anklagend von aller Welt ein. Genauso wenig prangert Peking jede neue amerikanische Waffenentwicklung als Bedrohung der eigenen Sicherheit und des Weltfriedens an.

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