Breivik: Der Massenmörder und wir

Von Michael Kraske

Die Bildzeitung bezeichnet den norwegischen Massenmörder Anders Behring Breivik beharrlich als „Monster“. Das machen Boulevardzeitungen so, weil sie Gefühle anstacheln wollen, ganz gleich ob das Hass oder Abscheu sind. Die Entmenschlichung bringt aber keinerlei Erkenntnisgewinn, warum der Mensch Breivik sich im Recht wähnte, Jugendliche niederzumetzeln, weil er sie für „multikulturelle Aktivisten“ hielt. Am Ende des Prozesses wird es darum gehen, ob Breivik steuerungsfähig war, ob er beim Morden die Kontrolle über sich hatte oder ob er so krank war, dass er letztlich nicht frei war, sich gegen seine monströse Tat zu entscheiden.

Zwei Gutachten kommen zu unterschiedlichen Schlüssen: Das erste bescheinigt Breivik paranoide Schizophrenie, das zweite widerspricht der Diagnose und hält Breivik für voll schuldfähig. Eine Ferndiagnose ist unsinnig, aber die Fragen nach dem freien Willen und dem politischen Fanatismus des Überzeugungstäters Breivik sind grundlegender. Das Gericht muss versuchen zu klären, ob Breivik im psychiatrischen Sinn krank ist. Für die westlichen Gesellschaften aber ist die Versuchung groß, die monströsen Taten als kranken Wahnsinn zu entsorgen. Dann braucht man sich nicht mehr mit der Ideologie kultureller Reinheit, die Breivik auf mitleidloseste Weise zum Massenmörder machte, zu beschäftigen.

Der österreichische Gerichtspsychiater Reinhard Haller hat darauf hingewiesen, dass Psychiatrie keine Naturwissenschaft ist. Er hält beide Gutachten für falsch. Das erste, weil die Diagnose „paranoide Schizophrenie“ nicht zutreffe. Das zweite, weil er den Umkehrschluss ablehnt, dass Breivik voll schuldfähig sein muss, wenn er nicht schizophren ist. Für Haller steht fest, dass Breivik „hochgradig gestört“ sein müsse. Seit Jahren tobt ein Streit, ob es den freien menschlichen Willen überhaupt gibt. Hirnforscher prophezeien, dass neue wissenschaftliche Erkenntnisse dazu führen werden, das überlieferte Strafrechtssystem per se in Frage zu stellen. Dass irgendwann Therapie an die Stelle von Strafe treten müsse. Schon heute argumentieren Psychiater, dass bei vielen männlichen, inhaftierten Gewalttätern etwa eine Borderline-Persönlichkeitsstörung vorliege, aber nicht diagnostiziert werde. Gegenwärtig müssen Richter in den Grauzonen menschlicher Psyche über den Punkt entscheiden, ob der Täter die Einsicht haben konnte, dass sein Handeln nach allgemeinen Maßstäben falsch ist und ob er in der Lage war, sich zum Tatzeitpunkt zu steuern. Auch im Fall Breivik wird diese Entscheidung am Ende keine eindeutig objektivierbare sein.

Auf den ersten Blick absurd: Breivik selbst kämpft vor Gericht um seine Zurechnungsfähigkeit. Er will beim Wort genommen werden. Und er hat einige gute Argumente auf seiner Seite. Er kann durchaus das Leid nachvollziehen, das seine Taten den Opfern und ihren Familien zufügten. Er hat vollkommen Recht damit, dass westliche Gerichte kein Problem damit haben, terroristische Dschihadisten als fundamentalistische Überzeugungstäter zu verurteilen, ohne die Frage nach psychischer Krankheit überhaupt zu stellen. Breivik räumt zwar ein, narzisstisch zu sein. Aber auch sein Hinweis ist korrekt, dass diese Persönlichkeitsstörung weit verbreitet ist. Dazu reicht ein Blick in die Vorstandsetagen großer Konzerne und übrigens auch in Chefredaktionen. Mit Sicherheit lässt sich derzeit nur sagen, dass Breivik ein glühender Rechtsextremist ist. Ob er ein kranker Rechtsextremist ist, wird wohl bis zuletzt eine Glaubensfrage bleiben.

Die medial in alle Welt verbreiteten Aussagen Breiviks zeigen einen fanatischen Rechtsextremisten, der an die kulturelle Reinheit glaubt und „Islamisierung“ für das größte anzunehmende Verbrechen hält. Dieses Gedankenkonstrukt ähnelt den Prämissen der Neuen Rechten, deren Vordenker wie Alain de Benoist oder Pierre Krebs dem Rechtsextremismus vor Jahren ein modernes neues Gedankengebäude zimmerten. „Homogene Völker in einer heterogenen Welt, nicht umgekehrt.“ So der intellektuelle Schlachtruf. Der diskreditierte Begriff der Rasse wurde durch den unbelasteten Begriff „Kultur“ ersetzt. Das Ergebnis blieb jedoch gleich. Eine Mischung der Kulturen war weiter „Völkermord“. Wo Völker ein Recht auf kulturelle Identität haben, Menschen aber keine universalen Menschenrechte, werden diejenigen, die Völker und Kulturen mischen – durch „Multikulti-Politik“ oder schlicht durch Einwanderung – zu Feinden, die in letzter Konsequenz auch vernichtet werden dürfen.

Nicht zufällig hat Breivik die deutschen NSU-Mörder als geistige Gesinnungsgenossen benannt. Die deutschen Neonazis ermordeten integrierte Migranten. Die Botschaft der Taten: Nicht nur als „Sozialschmarotzer“ beschimpfte arbeitslose Ausländer haben in Deutschland nichts zu suchen, auch das erfolgreiche Leben „Fremder“ muss vernichtet werden, weil es Deutschland „überfremdet“ und die Reinheit des „deutschen Volkskörpers“ zerstört. Diese Reinheit ist freilich ein genetisch unhaltbares Konstrukt. Aber wie beliebt das Denken in den kollektiven Kategorien von Volk, Kultur und Genen ist, hat der Erfolg für Sarrazins „Deutschland schafft sich ab“ eindrucksvoll bewiesen.

Wo beginnt also der politische Wahn? Mit der Behauptung eines genetisch reinen Urvolkes, das es vor Verdummung und genetischer Verschmutzung zu schützen gilt? Oder erst, wenn man das Konstrukt ethnischer Reinheit auf mörderische Weise in die Tat umsetzt? Der Fanatismus von Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe erscheint ebenfalls wahnhaft, aber war er das auch im medizinischen Sinn? Wer ethnische Reinheit eines Volkes als höchsten Wert betrachtet, wird nicht automatisch zum Mörder. Aber weder die Morde Breiviks noch die des NSU lassen sich ohne dieses Konstrukt verstehen.

Je monströser und unfassbarer die Tat, umso stärker ist der gesellschaftliche Reflex, das Motiv als Verirrung von Einzelgängern zu entsorgen, die außerhalb der Gesellschaft stehen. Ihre Taten tun das zweifellos, die sie antreibende Ideologie jedoch ist mitten unter uns. Sowohl Breivik als auch die deutschen Nazi-Terroristen sind – unabhängig von der Frage psychischer Krankheit – auch Gesinnungstäter. Deutsche Gerichte tun sich schwer, Ausländerhass und Rassismus als Mordmotive zu würdigen. Fanatismus ist auch bei uns für Islamisten reserviert. Es fällt offenbar schwer zu akzeptieren, dass der Glaube an Rassereinheit so mörderisch sein kann wie Habgier, Rache oder Eifersucht. Selbst in Deutschland, das im Namen der Rasse Vernichtung über ganz Europa brachte.

Der Fall Breivik bietet nicht nur den Anlass, über Schuldfähigkeit und freien Willen nachzudenken, sondern auch über die Angst vor dem Fremden und die Sehnsucht nach kollektiver Reinheit. Ersteres betrifft nur einen Massenmörder, der unfassbares Leid brachte. Letzteres geht uns alle an.

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Eine Antwort auf Breivik: Der Massenmörder und wir

  1. Rainer Möller sagt:

    Kraske plädiert für die kulturelle Reinhaltung vom Rassismus in genau demselben Sinn wie Breivik für die kulturelle Reinhaltung vom Islam plädiert. Für seinen Reinhaltungswahn beruft sich Kraske auf die gelegentlichen blutigen Konsequenzen des “Rassismus” und “Kulturalismus”, genauso wie Breivik sich auf die gelegentlichen blutigen Konsequenzen des Islam und des “Multikulturalismus” beruft.

    Fazit: Man sollte sich darauf beschränken, gewaltsame Ausschreitungen zu verhindern. Ansonsten sind die Menschen ähnlicher, als sie selber gern sein möchten – auch “Rassisten” und “Multikulturalisten”, Kraske und Breivik.