Von Marcus Müller
Eine alte Regel sagt über den Bundespräsidenten: Mag er auch ein Besenstiel oder eine Abdeckplane sein, irgendwann erklimmt er doch die höchsten Höhen auf der Beliebtheitsskala. Auch Joachim Gauck ist nach einem Jahr im gehobenen Staatsdienst auf diesem Weg. Und zum Jubiläum werden ihm gerade salbungsvolle Porträts gewidmet – das Amt gerettet und nach zwei spektakulären Rücktritten wieder mit Würde gefüllt, so was. Man darf annehmen, dass dabei auch das zum Stichtag in der BILD-Zeitung erschienene Interview den eher obrigkeitsstaatlichen Gepflogenheiten des Berliner Politbetriebes folgt. Mithin ist es nicht nur wegen der typisch deutschen Anbetung des Amtes glattgebügelt wie eine ungelesene Zeitungsseite, sondern vermutlich von beamteten Heerscharen auch noch stärker autorisiert als früher Zitate von DDR-Oberen. Dadurch wird es allerdings in diesem Falle erst interessant: „Ja, es gibt unangemessene Gehälter“, spricht der Präsident also durch die BILD zu seinem Volke. „Aber wenn wir uns allein daran festbeißen, vergeuden wir viel Energie, die anderswo sinnvoller eingesetzt werden könnte.“ Zugegeben: Er macht einen Vorschlag, wo man die politische Energie hinfließen lassen könnte, in die Bildung nämlich. Schön. Und richtig. Aber dieser Ton, in dem er da eins mit dem anderem wegzuwischen versucht – erstaunlich. Inhaltlich und intellektuell ist das so flach wie der Ausruf: Haben wir keine anderen Probleme!? Auch dieser billige rhetorische Kniff will immer nur vom Thema ablenken. So wie Gauck offenbar, denn: Mokiert er sich hier etwa darüber, dass wir uns, sagen wir, lieber über ein geschenktes Bobby-Car oder das Tattoo der Frau Gemahlin von irgendwem unterhalten, als über Bildung und Zukunft?
Nein, Gauck rät uns allen Ernstes, nicht damit Energie zu vergeuden, dass wir an unangemessenen Gehältern von Managern rumkritteln. Muss man diesem Staatsoberhaupt tatsächlich verklickern, was obszöne Gehälter – und für den Präsidenten noch etwas präziser: die aberwitzigen Boni obendrauf – gerade erst mit angerichtet haben? Die Eurokrise, die Turbulenzen auf den Finanzmärkten, den verständlichen Ärger über unanständige Saläre, während normale Arbeit teilweise die Menschen nicht mehr ernährt? An solchen Kleinigkeiten sollen wir uns also nicht so „festbeißen“, sagt der oberste Sonntagsredner. Das passt schön zum „Tugendfuror“, der Gauck zur Sexismusdebatte zunächst einfiel, bis ihm selbst klar oder erzählt wurde, dass vielleicht eher sein Problembewusstsein unangemessen ist. Angesichts des erwähnten Autorisierungswahns im Berliner Regierungsviertel, der beides durchgehen ließ, dürfte aber immerhin der echte Gauck gesprochen haben. Und der möchte uns offenbar sagen: Es ist, wie es ist, gottgegeben. Den passenden Wahlspruch dazu hatten wir schon mal: Keine Experimente.
Eine „radikale Verkürzung“ sähe die Süddeutsche Zeitung darin, Gauck einen „Opa der Nation“ zu nennen. Nö, genau das ist er, wie er im BILD-Interview weiter offen selbst belegt. „Es gibt Situationen und Themen, die sich nur schwer durch eine Ja/Nein-Entscheidung regeln lassen, bei denen die von der Bevölkerung Gewählten sich intensiver mit langfristigen Entwicklungen und auch mit Detailfragen beschäftigen können als viele Wähler“, sagt Gauck auf die Frage, warum in Deutschland nie direkt über die Europapolitik abgestimmt wurde. Man kann sich hier nur schwer die Polemik sparen, mal zurückzufragen, wie denn anders im Parlament über Gesetze abgestimmt wird? (Für den Präsidenten: mit Ja/Nein und, hoppla, noch was, Enthaltung.)
Der bräsige Paternalismus jedoch, der in seiner Aussage steckt, verschlägt einem die Sprache. Man muss gar nicht unbedingt für mehr direkte Demokratie sein – auch wenn es gut wäre: Das soll ernsthaft sein wichtigstes Argument gegen mehr direkte Demokratie sein? Er sollte mal hier ein bisschen lesen. Hat der Herr Bundespräsident zur Kenntnis genommen, dass immer mehr Gesetze derartig durch die Parlamente gepeitscht werden, dass sogar der an sich recht staatstragende Bundestagspräsident mault? Ist – by the way – die Zypern-Entscheidung der Euro-Finanzminister gerade mal wieder nächtens auf seltsame Weise zustande gekommen, womöglich diesmal sehr übernächtigt? Hält der Bundespräsident die im Bundestag gern verhängte Fraktionsdisziplin für eine Art der Beschäftigung mit Detailfragen? Meint er schließlich, dass die Wahl zu irgendwas sogleich einen besser urteilenden Menschen aus jemandem macht? Dann sollte er sich noch mal vergegenwärtigen, wie doll informiert manch Volksvertreter zur Tat schreitet.
Für einen „Demokratielehrer“ (auch wenn die derzeitige Kanzlerin ihn dazu ernannt hat), ist bloßes Hochleben-Lassen der Verhältnisse ein bisschen dürftig. Das Unbehagen an der Politik einfach wegzureden, ist ja wohl kaum die Lösung. Dass seine Haltung sehr nach den 60er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts müffelt, scheint Gaucks Nase aber nicht zu stören. Wer jedoch so wenig im Stoff ist, bekommt, ob Untertan, Besenstiel oder oberster Demokratielehrer hier nur: einen Abzug in der B-Note.
Zeigen Politik, Gesellschaft, Medien und PR-Salat-Verkäufer ausreichend Grazie, wenn sie ihre Tätigkeit in Wort, Schrift, Bild und Hosenanzug ausführen? So wie das für Eiskunstläufer festgestellt wird, will Marcus Müller das in seiner Kolumne B-NOTE über unser Öffentlichkeitspersonal für den debattiersalon herausfinden.