Von Dr. Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbands und Autor des Armutsberichts 2011
Knapp 12 Millionen Menschen, 14,5 Prozent der in Deutschland lebenden Bevölkerung, galten 2010 als armutsgefährdet. Nach der in der EU gebräuchlichen Definition sind es Personen, die über weniger als 60 Prozent des Durchschnittseinkommens verfügen. Auffällig dabei ist: Bundesweit hat sich die Armut verhärtet. Seit sechs Jahren gibt es so gut wie keine Bewegung. Die Armutsquote hat sich vielmehr auf außerordentlich hohem Niveau verfestigt und ist von der wirtschaftlichen Entwicklung seit Jahren vollkommen abgekoppelt. Ob Boom oder Krise – selbst starke wirtschaftskonjunkturelle Ausschläge scheinen so gut wie keinerlei Einfluss mehr auf die Armutsentwicklung in Deutschland zu haben. Wenn wir uns die wirtschaftlich starken Jahre 2006, 2007 und 2010 anschauen, müssen wir feststellen, dass die Armut entweder kaum sank oder sogar leicht anstieg. Selbst Arbeit schützt nicht mehr vor Armut.
Ein großer Teil der zusätzlichen Stellen ist im Niedriglohnsektor entstanden, und die Zahl der prekären Beschäftigungsverhältnisse ohne Sozialversicherungsschutz ist sprunghaft gewachsen. Dies zeigt: Die Bundesregierung ist völlig falsch beraten, bei der Bekämpfung der Armut in erster Linie und allein auf Marktkräfte zu setzen. Auch bei starkem wirtschaftlichem Wachstum sind die Marktkräfte offensichtlich nicht in der Lage, für einen Abbau der Armut zu sorgen. Der Markt ist in der Lage, Reichtum zu produzieren, er ist jedoch nicht in der Lage ihn vernünftig und gerecht zu verteilen.
Armut ist nicht naturgegeben. Sie resultiert auch nicht alleine aus der wirtschaftlichen Entwicklung. Armut ist immer auch politisch beeinflusst. Wir haben es mit einem Arbeitsmarkt zu tun, der die Spitze nach wie vor sehr gut entlohnt, für geringer Qualifizierte aber nichts mehr übrig hat. Wir haben eine anhaltend hohe Langzeitarbeitslosigkeit und einen sich ausbreitenden Niedriglohnsektor. Das Schwinden der Mittelschicht, die zunehmende Armut, das Auseinanderdriften von oben und unten – das alles sind auch Resultate der Politik.
Wir dürfen nicht vergessen: Die Schaffung des Niedriglohnsektors war ausgesprochenes Ziel von Rot-Grün, Hartz IV war kein Betriebsunfall und Steuerentlastungen für die Oberschicht ehrgeiziges Ziel des damaligen Finanzminister Hans Eichel. Geradezu bezeichnend ist, dass an dem gleichen Tag, als die Arbeitslosenhilfe abgeschafft wurde und Hartz IV in Kraft trat, auch der Spitzensteuersatz von 45 Prozent auf 42 Prozent gesenkt wurde. Auch das Hartz IV vorgelagerte soziale Auffangnetz, das Arbeitslosengeld I, wurde in den letzten Jahren politisch gewollt immer weiter aufgeribbelt. Immer mehr Arbeitslose fallen nun immer schneller in Hartz IV.
Die maximale Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I wurde ab 2006 für die älteren Arbeitslosen über 55 Jahren von bis dahin 32 Monate auf nur noch 18 Monate gekürzt. Für alle anderen Arbeitslosen wurden einheitlich zwölf Monate festgesetzt, während sie zuvor je nach Alter und Beitragszeiten die Leistung deutlich länger beziehen konnten. 2007 verlängerte die große Koalition die Bezugszeit für ältere Arbeitslose immerhin wieder auf zwei Jahre. Das änderte jedoch nichts daran, dass das Regelwerk insgesamt wesentlich restriktiver blieb als in den Zeiten vor Hartz IV.
Die Folgen: Gerade einmal noch ein Drittel der Arbeitslosen hat heute Anspruch auf Arbeitslosengeld I; jeder Vierte, der arbeitslos wird, fällt sofort in Hartz IV. Hartz IV hat erheblich zur fortschreitenden Erosion und sozialen Deformierung des Arbeitsmarktes beigetragen, auf dem mehr und mehr Menschen zu geradezu skandalösen und entwürdigenden Stundenlöhnen arbeiten müssen. Seinen statistischen Niederschlag findet dieser Skandal in den 1,4 Millionen sogenannten Hartz-IV-Aufstockern, die so wenig verdienen, dass sie trotz Erwerbstätigkeit auf Hartz IV angewiesen bleiben. Das Phänomen des »working poor «, der Armut trotz Arbeit, hat auch in Deutschland Einzug gehalten.
Ein Gutteil der von der jetzigen Bundesregierung getroffenen steuer- und sozialpolitischen Maßnahmen ist ebenfalls eher dazu geeignet, die Armutsproblematik zu verschärfen als sie zu lösen. Die familienpolitische Umverteilung von unten nach oben ist dafür bezeichnend. Relativ kurz nach Regierungsantritt wurde der steuerliche Kinderfreibetrag von 6.024 Euro auf 7.008 Euro angehoben. Für den Spitzenverdiener stieg damit die Nettoentlastung von 220 auf 277 Euro pro Kind und Monat. Für die breite Masse wurde das Kindergeld dagegen lediglich um 20 Euro auf 184 Euro angehoben.
Und Kinder im Hartz-IV-Bezug gingen ganz leer aus. Sie warten bis heute trotz Verfassungsgerichtsurteil und steigender Lebenshaltungskosten auf eine Erhöhung der Regelsätze.
Stattdessen wurde für Hartz-IV-Empfängerinnen auch noch das Elterngeld faktisch gestrichen. Eine Einbuße von 300 Euro monatlich. Dazu kamen Kürzungen beim Wohngeld oder die Streichung der Zuschläge für Arbeitslose beim Übergang vom Arbeitslosengeld I zu Hartz IV. Armutspolitisch verheerend dürfte sich mittelfristig die Streichorgie in der Arbeitsmarktmarkpolitik auswirken. Durch die Milliardenkürzungen bei der öffentlich geförderten Beschäftigung stehen nicht nur aktuell fast 200.000 Langzeitarbeitslose auf der Straße, die bei Antritt dieser Koalition noch beschäftigt werden konnten. Die Zahl der öffentlich geförderten Beschäftigungsangebote wurde durch diese Koalition fast halbiert.
Es ist allerhöchste Zeit für eine rigorose armutspolitische Kehrtwende. Wir müssen mit Mindestlöhnen und einem gerechten Familienlastenausgleich dafür sorgen, dass sich für die, die arbeiten, Arbeit auch lohnt. Wir müssen die Hartz-IV-Regelsätze auf eine Höhe anheben, die nicht nur die nackte Existenz sichert, sondern auch Teilhabe ermöglicht. Und wir müssen den Menschen Perspektiven geben. Wir müssen jungen Menschen versprechen, dass jeder, der einen halbwegs guten Schulabschluss hat, auch eine Ausbildungsstelle erhält. Wir müssen den Arbeitslosen versprechen, dass jeder, der sich anstrengt und bereit ist, sich zu qualifizieren, auch eine Integrationschance bekommt. Wo es der freie Arbeitsmarkt nicht richtet, müssen wir in öffentlich geförderte sozialversicherungspflichtige Beschäftigung investieren.
Dafür brauchen wir den Mut, die Vermögensungerechtigkeiten in Deutschland offen anzusprechen. Es ist an der Zeit, auch den Reichtum in Deutschland zu enttabuisieren. Einer öffentlichen Verschuldung von rund zwei Billionen Euro steht ein gigantisches Barvermögen von privaten Haushalten in Höhe von fast fünf Billionen Euro gegenüber. Wir kommen angesichts der sozialen und gesellschaftlichen Herausforderungen, vor denen Deutschland steht, nicht darum herum, die sehr Vermögenden zur Finanzierung der Lasten stärker als bisher heranzuziehen, d.h. konkret große Vermögen, Erbschaften sowie hohe Einkommen stärker zu besteuern als heute. Deutschland ist eines der reichsten Länder der Welt. Wo die Wirtschaft nicht für sozialen Ausgleich sorgt, ist Politik gefragt. Wenn wir Armut nicht bekämpfen können – wer dann?
Den Armutsbericht 2011 finden Sie hier: www.der-paritaetische.de/armutsbericht2011.
Weiterführende Literatur: Ulrich Schneider: Armes Deutschland. Neue Perspektiven für einen anderen Wohlstand, Westend 2010.