Von Marion Kraske
Auf der Wannseekonferenz vor 70 Jahren beschlossen die Nazis den systematischen Völkermord an den Juden. Um zu verdeutlichen, was der Holocaust für die Familien bedeutete, haben wir ein Interview mit einer “Betroffenen” geführt: Waltraud Häupl.
Häupl, Jahrgang 1935, studierte Malerei, Grafik, Geschichte und Kunstgeschichte in Wien. Mehr als 50 Jahre lang wusste sie nicht, woran ihre Schwester im Krieg gestorben war. Durch Zufall erfuhr sie Ende der neunziger Jahre die erschütternde Wahrheit: Annemarie war der gezielten Massenmordmaschinerie der Nazis zum Opfer gefallen, sie starb zusammen mit mehr als 800 Kindern in einer Wiener Tötungseinrichtung der NS-Kindereuthanasie.
EIN HALBES JAHRHUNDERT LANG HATTEN SIE KEINE KENNTNIS DARÜBER, WAS MIT IHRER SCHWESTER ANNEMARIE PASSIERT WAR, DIE IM KRIEG IRGENDWANN IN EIN KRANKENHAUS EINGELIEFERT WORDEN WAR. WANN KAM LICHT INS DUNKEL ?
Es war im März 1997, da gab es in den Abendnachrichten des österreichischen Fernsehens einen Bericht über den sogenannten Gedenkraum auf der Baumgartner Höhe. Dort, wo sich heute das Otto-Wagner-Spital befindet. Der Spiegelgrund war jene Anstalt, in der die Nazis in Wien Menschen im Rahmen ihrer Euthanasieprogramme getötet haben. Das wusste ich aber zu dem Zeitpunkt noch nicht.
Ich sah eingeblendet diese Regale mit großen und kleinen Gläsern. Es wurde das Wort Spiegelgrund erwähnt, doch dann war die Sendung auch schon aus. Ich war ja nur zufällig zu dieser Sendung geraten, als ich gerade in den Raum kam. Mein Mann, der dabei saß und auch nur halb aufgepasst hatte, hat dann auf meine Frage gesagt: Das war ein Bericht über eine Anstalt am Spiegelgrund, in der Kinder während der NS-Zeit getötet worden sind und deren Körperteile in Gläsern bis heute aufbewahrt werden.
HATTEN SIE BIS DAHIN SCHON JEMALS DAS WORT SPIEGELGRUND GEHÖRT?
Das Wort Spiegelgrund war mir ein Begriff seit meiner frühesten Kindheit. Ich konnte diesen Begriff aber bis dahin nicht lokalisieren, wusste nicht wo er geographisch lag.
HATTEN IHRE ELTERN DEN BEGRIFF VERWENDET?
Ich habe 1942 als das Todestelegramm – aus der Kinderfachabteilung wie ich heute weiß – kam, das Wort von meiner Mutter gehört. Und zwar in dem Moment, als sie das Telegramm mit der Nachricht vom Tode meiner Schwester las. Seitdem war mir das Wort präsent, irgendwo war es in mir begraben. Und als nun dieser Bericht im Fernsehen kam, kam das Ganze wieder an die Oberfläche.
WIE HABEN SIE DAS IN DEM MOMENT ERLEBT, ALS SIE DEN BEGRIFF NACH SO LANGER ZEIT WIEDER HÖRTEN?
In dem Moment, als ich das Wort Spiegelgrund hörte, war das wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Es hat mich festgehalten in dem Raum, so als ob man durch einen Schock kurzfristig erstarrte. Plötzlich kamen mir Assoziationen in den Kopf: Krank, Tod, verschwunden. Das waren die Begriffe, die ich mit meiner Schwester in Zusammenhang brachte. Ich war dann sehr beunruhigt.
WIE GING ES WEITER?
Am nächsten Vormittag habe ich umgehend in der ärztlichen Direktion der Klinik angerufen, aus einem Bauchgefühl heraus, ohne zu wissen, was mich erwartet. Die Sekretärin sagte dann nur, bleiben Sie am Telefon, ich schaue nach. Sie wollte nur das Geburtstagsdatum meiner Schwester wissen, und das hatte ich präsent. Es war der 8. Mai 1938.
Die Dame verschwand dann und kam nach wenigen Minuten ans Telefon zurück. Sie sagte: Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass Ihre Schwester auf unserer Liste steht. Nun wusste ich nicht, was das alles zu bedeuten hatte. Die Dame erklärte mir ganz kurz, dass Annemarie ein Opfer der NS-Zeit geworden war. Ich fragte daraufhin, ob es irgendwelche Unterlagen gebe. Sie sagte mir, dass es eine Krankenakte gebe und riet mir, mit dem ärztlichen Leiter Verbindung aufzunehmen.
BIS DAHIN AHNTEN SIE NICHT, WAS MIT IHRER SCHWESTER PASSIERT WAR?
Ich habe nichts gewusst. Ich hatte in der Vergangenheit noch die Geschwister meines bereits verstorbenen Vaters gefragt, ob sie mir etwas über das Verschwinden Annemaries sagen konnten. Aber es wusste niemand etwas. Jedenfalls sagte keiner etwas. Sie waren irgendwie befangen, das Thema war geheimnisumwittert. Das Einzige was ich erfahren konnte, war, dass Annemarie krank war.
WAS GESCHAH DANN?
Ich fuhr in Wien auf die Baumgartner Höhe, dort wo heute das Otto-Wagner-Spital untergebracht ist, und erhielt nach mehreren Wochen eine ziemlich kompakte Krankengeschichte mit detaillierten Eintragungen der Ärzte, des Pflegepersonals, und das Gutachten eines Amtsarztes des zuständigen Fürsorgeamtes. Seine Diagnose lautete: Rachitis gravissima in Heilung. Sie war ein bisschen kleiner als andere Kinder in ihrem Alter, aber weder körperlich noch geistig behindert. Und der Amtsarzt hatte geschrieben: Sie sei nicht geeignet für eine Anstalt für geistig oder körperlich behinderte Kinder. Sie bräuchte lediglich Pflege angesichts der schweren, aber abheilenden Krankheit.
Nun weiß man ja, Rachitis ist eine typische Kriegskrankheit, ein Mangel an Vitaminen vor allem an Vitamin D. Wir hatten ja eine feuchte und dunkle Wohnung im 15. Wiener Gemeindebezirk, und das war kein besonders guter Platz für ein Kind mit Rachitis. So kam sie zwischendurch, das habe ich durch die Krankengeschichte in Erfahrung bringen können, wegen eines Darminfektes in ein Kinderkrankenhaus in der Kolschitzkygasse im vierten Wiener Gemeindebezirk. Dorthin brachte sie mein Vater.
KÖNNEN SIE IHRE SCHWESTER EINMAL BESCHREIBEN?
Annemarie war ein ganz liebes Kind, wie eine Puppe habe ich sie in Erinnerung. Das einzige Foto, das ich von ihr privat besitze, hat mein Vater von ihr gemacht. Es zeigt sie mit ihrem kleinen Wuschelköpfchen, ganz entzückend sah sie aus. Als ich dann in der Krankengeschichte 1997 Fotos von ihr sah, die Dr. Gross, einer der letzten NS-Tötungsärzte von ihr gemacht hat, da war ich doch sehr erschrocken. Da war ich so bewegt. Die Aufnahme zeigte ein Kind voller Angst, das weinte, während es von dem Arzt fotografiert wurde, dem es ausgeliefert war.
NACH DEM AUFENTHALT IM KINDERKRANKENHAUS KAM ANNEMARIE ALSO NICHT MEHR NACH HAUSE?
Nein, mein Vater hat sie ins Krankenhaus gebracht, freiwillig. Sie kam zur Pflege in ein NSV-Kinderheim in einem kleinen Schlösschen im 21. Bezirk, wo es sonnig war und grün. Meine Eltern waren damals sicherlich sehr angetan von der schönen Umgebung, Natur war meinem Vater sehr wichtig. Von dort wurde sie dann nach einiger Zeit aber in die Kinderfachabteilung am Spiegelgrund verlegt. Dort erfolgte die Anfangsuntersuchung durch Dr. Gross. Der Amtsarzt hatte zuvor bereits die abheilende schwere Rachitis attestiert. Sie sei pflegebedürftig, erziehungs- und entwicklungsfähig. Die Eignung für die Aufnahme in eine Anstalt für schwachsinnige Kinder wurde dezidiert verneint. In der Krankenakte stand nun plötzlich „etwas debil, gebrechlich“, und mit großen Lettern: „Idiotie“. Zwischen den beiden Attesten liegen gerade einmal drei Monate. Das muss man sich einmal vorstellen!
Zu Hause haben wir über Annemaries Krankheit fast nicht geredet. Wir waren drei Mädchen, meine zweite Schwester war zwei Jahre, Annemarie drei Jahre jünger als ich. Ich war die Älteste, war aber erst drei als Annemarie geboren wurde.
WIE WAR DIE ATMOSPHÄRE ZU HAUSE?
Wir hatten eine beengte Wohnung, es war dort dunkel und feucht. Die Räume waren sehr klein, es gab eine Küche und ein Schlafzimmer, das WC war auf dem Gang. Alles in allem eine düstere Atmosphäre.
WANN HAT DIE FAMILIE ERFAHREN, DASS ANNEMARIE GESTORBEN IST?
Ich ging bereits zur Schule. Annemarie war fast zwei Jahre dort oben auf der Baumgartner Höhe. Mein Vater war damals bestimmt mehrfach zu Besuch, Kinder durften aber dort nicht hin, ich habe sie dort also nie gesehen. An jenem Tag, am 26. September 1942, übergab mir der Briefträger ein Telegramm, es war Waschtag, und die Mutter war im Keller. Ich brachte das Telegramm zu ihr in die dampfende Waschküche, eine Nachbarin half ihr soeben die Wäsche auszuwringen. Meine Mutter machte den Umschlag auf und begann zu weinen. Die Nachbarin bemühte sich um sie und versuchte, sie zu trösten. Die beiden sprachen leise, wie das damals so üblich war. Man wollte sich ja nicht unnötig in Gefahr bringen.
Ein Wort habe ich aber aufgeschnappt, und das war das Wort „Versuchskaninchen“. Das war für mich ein Wort, das mir niemand erklären konnte. In der Rückschau glaube ich heute, dass die Eltern sehr wohl gewusst haben mussten, dass es am Spiegelgrund nicht mit rechten Dingen zugegangen ist. Es kamen ja in der Zeit, das weiß ich heute durch meine Recherchen, auch zahlreiche Todesmeldungen aus anderen Tötungsanstalten.
Was mich bis heute besonders erschüttert, ist, dass es Ärzte waren, die Methoden erfunden haben, um Kinder und Jugendliche, dazu Tausende Erwachsene, noch schneller und grausamer umzubringen.
WIE HAT DIE TODESMELDUNG AUF SIE GEWIRKT?
Ich konnte mit dem Begriff Tod als Kind nicht wirklich etwas anfangen, Annemarie war ja zu der Zeit schon lange von zu Hause fort. Es gab eine Beerdigung, ich wollte auch dorthin, aber weder meine Mutter noch ich gingen schließlich hin. Meine Mutter war damals sehr kränklich, die Kriegsberichte waren furchtbar, alle hatten Angst. Ich glaube, meine Mutter hat es nicht über sich gebracht, zum Begräbnis zu gehen, und so ging nur der Vater. Er erzählte später, dass er den kleinen Sarg von Annemarie selber getragen hat. Das hat mich sehr betrübt. Wir haben dann mit der Mutter zu Weihnachten ein kleines Bäumchen mit Papierblumen geschmückt. Für mich war das sehr schön, da ich auf diese Weise etwas für Annemarie machen konnte. Ich durfte das Bäumchen dann mit meinem Vater später auf den Zentralfriedhof bringen. An der Stelle des Grabes stand ein großer schöner Baum, daran erinnere ich mich noch. Später, in den sechziger Jahren, wurde das Grab von meinen Eltern aus finanziellen Gründen aufgegeben.
MEHRERE JAHRZEHNTE GAB ES DANN KEINE BERÜHRUNGSPUNKTE ZU DEM THEMA?
Nein, erst 1997. Nachdem ich die Krankenakte vom ärztlichen Leiter des ehemaligen Spiegelgrunds ausgehändigt bekommen hatte, bin ich zu verschiedenen Stellen gegangen, um nachzuforschen, was mit Annemarie geschehen war. Wie einen Täter hat es mich immer wieder an die Orte der Vergangenheit gezogen, auch in den Pavillon 15, den sogenannten Todespavillon, in dem heute ein Pflegeheim untergebracht ist. Damals kamen dort jene Kinder hin, die getötet werden sollten. Als ich mit einer Schülergruppe vor Ort war, traf ich zwei Ärzte. Ich habe ihnen dann erzählt, dass hier Kinder getötet wurden, auch meine Schwester. Die haben nichts gewusst vom Spiegelgrund und seiner traurigen Vergangenheit, stellen Sie sich das vor. Das Ganze ist ja jahrelang von der Stadt Wien und den Verantwortlichen vertuscht worden.
WAS WAR FÜR SIE DER SCHLIMMSTE MOMENT WäHREND DIESER NACHFORSCHUNGEN?
Von der Universität aus Toronto sowie von einer Angehörigen eines Opfers in Hamburg kamen damals Informationen, dass es auf dem Gelände des Spiegelgrunds noch sterbliche Überreste der Opfer der Kindereuthanasie geben soll. Ich bin dann irgendwann in einen Pavillon gegangen, die sogenannte Prosektur, dort ging es erst einmal den Keller hinunter. Dort lagen auf einem Tisch hingeworfen und ungeordnet die Krankenakten von verschiedenen Kindern. Daneben standen Regale mit verschieden großen Gläsern, auf ihnen fanden sich kleine Etikette mit Namen und einer Nummer. Auf manchen standen auch die Krankheiten geschrieben. In den Gläsern fanden sich die Überreste der Kinder: Man konnte ganze Körperteile aber auch nur Teile von Gehirnen und Seitensträngen sehen. In einem Glas fand sich ein ganzer Kinderkopf, er war vom Rest des Körpers abgetrennt. Ich fühlte mich wie in Watte gepackt, konnte das gar nicht begreifen, was ich da sah. Was für ein Schock! Ich suchte weiter und fand schließlich ein Glas mit einem kleinen Gehirn. Auf dem Etikett stand Annemaries Name.
WIE LEBT MAN MIT SO EINER ENTDECKUNG? HABEN SIE DIESEN FUND JE BEREUT?
Nein, so furchtbar diese Entdeckung damals auch war, so kann ich heute doch sagen, dass es für mich wichtig war. Viele Dinge, die ich nachher während meiner Recherchen erfahren habe, ergaben plötzlich einen Sinn. Etwa, dass den Angehörigen damals von den NS-Behörden mitgeteilt wurde, dass die Särge vor der Bestattung nicht mehr geöffnet werden durften. Man tat alles, um die begangenen Ungeheuerlichkeiten zu vertuschen.
INSGESAMT WURDEN IN WIEN MEHR ALS 800 KINDER AM SPIEGELGRUND GETÖTET. ES WAR DIE ZWEITGRÖSSTE KINDERFACHABTEILUNG DES DRITTEN REICHES. HIER WURDEN MIT IHNEN MEDIZINISCHE VERSUCHE GEMACHT, IHRE KÖRPER SYSTEMATISCH MIT MEDIKAMNTEN GESCHWÄCHT. AUCH ANNEMARIE?
Wie die meisten anderen hat Annemarie auch Luminal bekommen ein Beruhigungsmittel, ein Barbiturat. Je nach Dosierung konnte es tödlich wirken. In den Krankengeschichten steht, dass die Kinder plötzlich zu schlafen begannen. Die Kinder wurden zuvor gezielt krank gemacht, wurden erkältet, hatten Bronchialkrankheiten, waren geschwächt, bekamen wenig zu essen und zu trinken und hatten dann aufgrund des Barbiturates kaum mehr die Kraft, abzuhusten; dadurch entstanden dann auch die zahlreichen Lungenentzündungen. Diese Todesursache findet sich in vielen Krankenakten.
Annemarie wurde am 18. Mai 1942 an den „Reichsausschuss zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden” nach Berlin gemeldet. Er hatte die Oberaufsicht über die Mordprogramme. Von dort erfolgte auf Grund der Meldungen der Ärzte die Verfügung zur weiteren Behandlung oder Beobachtung der in die “Klinik” eingewiesenen Patientinnen. Wobei „Behandlung“ “Tötung” und „Beobachtung” „noch zu warten” bedeutete.
Danach ist Annemarie grausam zugrunde gegangen, sie hatte acht Wochen lang Keuchhusten. Dann unterzog sie Dr. Gross einer sogenannten Encephalographie, einer Rückenmarkspunktion, bei der aus dem Rückenmarkskanal Flüssigkeit entfernt wird und Luft ins Gehirn gepumpt wurde. Eine schmerzhafte und erschreckende Untersuchung vor allem bei einem ohnehin erkrankten Kind. Viele Kinder hatten nach der Untersuchung hohes Fieber oder sind gestorben.
Drei Tage vor ihrem Tod steht in Annemaries Krankenakte: An Lungenentzündung erkrankt. Allgemeinbefinden ist schlecht, Kreislaufschwäche, zwei Tage später dann der Vermerk sehr schlechte Atmung.
WIE GING ES MIT ANNEMARIE WEITER?
Dr. Gross bescheinigte später, dass Annemarie „tiefstehend idiotisch“ sei. Ein Mädchen, das zuvor Rachitis in Heilung hatte, machte man nun zur Todeskandidatin. Denn kranke, behinderte und vermeintlich erblich belastete Menschen hatten in der NS-Ideologie keine Lebensberechtigung. Am 23. September erkrankt Annemarie laut Krankenakte dann an Lungenentzündung. Es erfolgte zwei Tage später die sogenannte „Schlechtmeldung“ an unsere Eltern. Das war so üblich, dass man die Schlechtmeldung schon versendete, wenn es bereits zu spät war, ohne dass es noch eine Möglichkeit für die Angehörigen gab, ihre Kinder zu sehen. Auch bei Annemarie war es dann zu spät: Sie starb laut Krankenakte am 26. September um 8 Uhr morgens an Lungenentzündung und eitriger Bronchitis.
JAHRZEHNTE SPÄTER FAND EINE OFFIZIELLE BESTATTUNG DER KINDER-URNEN STATT. EIN GUTER ABSCHLUSS?
Die Angehörigen, die sich im Laufe der Zeit zusammenfanden, wollten eine Bestattung für alle Opfer. Die fand dann im Jahr 2002 statt, an der auch der damalige österreichische Bundespräsident Thomas Klestil teilnahm. Dennoch gab es in all der Zeit viele Widerstände von offizieller Stelle, man hätte das Thema am liebsten ruhen lassen. Als beispielsweise die Kisten mit den vielen hundert Urnen der Kinder auf dem Wiener Zentralfriedhof angeliefert wurden, hieß es, es dürfe nicht fotografiert werden. Die Angehörigen waren damals vorerst ausgeschlossen und nicht eingeladen. Nach allem, was passiert war! Ich aber bestand darauf, anwesend zu sein. Und als die Kisten dann kamen, war das für mich ein sehr intensives Erlebnis. Dennoch hatte ich die ganze Zeit das Gefühl, dass man das Ganze am liebsten unter Ausschluss der Öffentlichkeit zu Ende gebracht hätte. Ein würdiger Abschluss sollte der eigentliche Festakt am 28. April 2002 werden. Für mich war er aber nur eine schöne Show. Dafür war das Bemühen der verantwortlichen Stellen, die Dinge nur ja nicht aufzubauschen, zu offensichtlich.
DIE KINDEREUTHANASIE GILT ALS EINES DER GRÖSSTEN ORGANISIERTEN VEBRECHEN DER NS-ZEIT. SIE HABEN INZWISCHEN ZWEI BÜCHER ÜBER DAS THEMA GESCHRIEBEN. WARUM?
Das Jahr 1997 hat sicherlich mein ganzes Leben verändert. Ich bin seither nie mehr zur Ruhe gekommen. Ich habe mich in die Arbeit gestürzt, habe die einzelnen Fälle der getöteten Kinder sehr gründlich aufgearbeitet. Ich fand in den Krankenakten Sätze, Beurteilungen, Aussagen, die sich zu einem sehr detaillierten Lebensweg des Kindes vervollkommnen ließen. Dadurch können die Kinder aus der Masse herausgeholt werden, sie erhalten ein individuelles Schicksal.
KÖNNEN SIE NEBEN IHRER SCHWESTER EINIGE FÄLLE NENNEN, DIE SIE BESONDERS BERÜHRT HABEN?
Natürlich haben mich alle Kinder berührt, jedes auf seine Weise. Sie sind ja alle hilflos in diese Mordmaschinerie hineingeraten. Kinder aus dem gesamten Reichsgebiet wurden unter falschem Vorwand nach Wien gebracht, etwa aus Hamburg oder Rheydt, um sie in dieser „Spezialklinik“ zu behandeln. In meinem Buch „Die ermordeten Kinder vom Spiegelgrund“….
…DAS MEHR ALS 600 SEITEN UMFASST….
…habe ich mehr als 600 Kinder samt ihrer eigenen, ganz individuellen Krankengeschichte im Detail vorgestellt. Da war zum Beispiel die einjährige Hertha, der die Ärzte bescheinigten, sie sei zwar mongolid, man könne sie aber als „nicht idiotisch bezeichnen“. Nach nur elf Tagen Aufenthalt am Spiegelgrund starb sie an Lungenentzündung. In einem Brief, den ihre Mutter voller Verzweiflung an die Klinikärzte nach Herthas Tod schrieb, berichtet sie, es gebe Gerüchte, dass das Mädchen vergiftet und beseitigt worden sei. Der zuständige Arzt Dr. Illing schrieb zurück, er wehre sich gegen derartige Unterstellungen und versicherte der Mitter „mit gutem Gewissen“, dass ihre Tochter an einer Lungenentzündung gestorben ist. Man hat die Eltern ja bewusst im Unklaren gelassen, was mit ihren Kindern passierte.
Dem nur acht Wochen alten Helmuth Hödl, einem Säugling, bescheinigten die Ärzte, er sei „körperlich minderwertig“. Dann war da die angeblich schwer erziehbare Erika Stanzl, die gleichzeitig als sehr belesen und begabt galt und die ihre Mutter in einem Brief gar um Bücher und Zuckerln bat, um den anderen Kindern, deren Eltern nichts schicken konnten, etwas abgeben zu können. Ihr attestierten die Ärzte, als sie Erika nach Berlin an den Reichsausschuss meldeten – was einem Todesurteil gleichkam – „Arbeitsunfähigkeit“ sowie eine „kindliche Urteilsbildung“. Am 28. 2.1942 wurde sie in den Pavillon 15 verlegt, den Todespavillon.
Aber es gab auch solche Kinder, die das Ganze offenbar nicht ertragen konnten: Die 15-Jährige Martha Arnhold etwa, die von den Ärzten als besonders „höflich und freundlich“ beschrieben wird. Nach nur vier Monaten beging sie im Oktober 1944 angeblich Selbstmord. So steht es in ihren Akten.
Es sind ja so viele gewesen. Alles in allem mehr als 800 Kinder. Man kann diese Zahl gar nicht fassen. Inzwischen habe ich noch mehrere andere Fälle in der gesamten damaligen Ostmark dokumentiert. Immer wieder suche ich nach Krankenakten, nach Details der Opfer, auch in anderen Ländern. Ein Großteil der Akten liegt im Berliner Bundesarchiv.
EINER DER MASSGEBLICHEN ÄRZTE DER WIENER KINDEREUTHANASIE, DR. HEINRICH GROSS, MACHTE NACH DEM KRIEG IN ÖSTERREICH EINE BILDERBUCHKARRIERE. ER WAR DER MEISTBESCHÄFTIGTE GERICHTSGUTACHTER DER NACHKRIEGSZEIT, ER FORSCHTE AUSGERECHNET MIT DEN ÜBERRESTEN JENER KINDER, DIE ER WÄHREND DER NS-ZEIT GETÖTET HATTE. UND ER ERHIELT FÜR SEINE VERDIENSTE DAS EHRENKREUZ FÜR WISSENSCHAFT UND KUNST 1. KLASSE, DAS IHM ERST ABERKANNT WURDE, ALS DIE VORWÜRFE GEGEN IHN LÄNGST BEKANNT WAREN.
Gross hat sich gerühmt, die weltweit größte Präparatensammlung zu besitzen und hat auch jahrelang ausgiebig darüber publiziert. Er wohnte noch lange, bis in die späten neunziger Jahre, auf dem Areal des ehemaligen Spiegelgrunds, dem Ort der grausamen Verbrechen, in einer von der Stadt Wien subventionierten Wohnung. Das Ganze ist furchtbar. Viele in der Politik, besonders im Bereich der Justiz müssen ihn gedeckt haben. Er kam durch, wie viele andere auch.
GROSS WURDE NIE VERURTEILT. ZUM EINEN, WEIL ES IN ÖSTERREICH JAHRZEHNTELANG KEINEN POLITISCHEN WILLEN ZUR AUFKLÄRUNG DER NS-VERBRECHEN GAB. UND NACHHER WAR ES ZU SPÄT: DER PROZESS GEGEN GROSS WURDE DANN IM JAHR 2000 WEGEN ANGEBLICHER PROZESSUNFÄHIGKEIT AUF UNBESTIMMTE ZEIT UNTERBROCHEN. SEINE DEMENZ, SCHREIBEN DIE BUCHAUTOREN OLIVER LEHMANN UND TRAUDL SCHMIDT, DIE DEN FALL GROSS EINGEHEND BESCHRIEBEN HABEN, HAT IHN UND DAMIT AUCH ALLE, DIE IHN DECKTEN, GERETTET. „KEIN URTEIL. ÖSTERREICH BLEIBT REIN“ – SO IHR FAZIT.
WIE BEWERTEN SIE DAS?
Das Ganze ist unfassbar grausam. Bis zum heutigen Tag hört man noch immer Menschen sagen, man möge endlich einen Schlussstrich machen. Die Verdränger und Vertuscher sind immer noch da. Dennoch gibt es auch andere Stimmen, wie etwa die des Primarius Dr. Langer, der jetzt ein Institut auf der Baumgartner Höhe leitet. In seiner Antrittsrede hat er Anfang 2010 Bemerkenswertes gesagt. Und zwar, dass es Ärzte waren, die den Menschen dort am Spiegelgrund die letzte Lebenszeit zur Hölle machten. Und dass man, um die Zukunft zu gestalten, die Vergangenheit nicht vergessen dürfe. Seine Aussagen sind ein Leuchtzeichen, das Hoffnung gibt.
EMPFINDEN SIE GEGENÜBER DEN NS-ÄRZTEN, DIE ANNEMARIE UND ALL DIE ANDEREN KINDER ERMORDETEN, SO ETWAS WIE HASS?
Nein, ich empfinde weder Hass noch Rachegefühle den Tätern gegenüber. Aber ich empfinde eine unendliche Abscheu vor ihnen, ihren unvorstellbaren Taten, ihren Lügen. Mich ekelt vor ihnen, mir graut vor ihnen.
WAS HAT SICH IN IHNEN VERÄNDERT?
Ich sehe heute aus allen bisher gewonnenen Erkenntnissen auch mir bekannte und fremde Menschen anders, als zuvor. Positives und Negatives, Ehrlichkeit und Unehrlichkeit, Verantwortung und Unverantwortung, um nur einiges zu nennen, halten sich die Waage und schwappen je nach Bedarf über. Wir alle müssen sehr wachsam sein.
SIE SITZEN GERADE AN EINEM NEUEN BUCH, IHREM DRITTEN ÜBER DIE NS-VERBRECHEN. EINE LEBENSAUFGABE?
Die Erforschung dessen was geschehen ist, ist mir ein inneres Anliegen. Ich weiß nun davon und muss es weitergeben – es soll so viel Wahrheit wie möglich ans Licht kommen. Die Warnung und der stumme Schrei der Opfer müssen deutlich lauter werden, damit so etwas nie mehr geschehen kann. Daher ist es wichtig, die einzelnen Fälle zu beschreiben, nicht nur das Verbrechen in seiner abstrakten Form.
WARUM IST DIESE AUFKLÄRUNG IM DETAIL FÜR SIE SO WICHTIG?
Ich will die Opfer dem Vergessen in Asche und Rauch entreißen, ihnen ihren Namen und ihre Geschichte und damit auch ihre Würde wiedergeben. Das Einzelschicksal berührt und rüttelt wach, das erfahre ich immer wieder bei meinen Vorträgen vor Menschen aller Generationen. Listen und Statistiken sind dagegen nahezu umsonst.
EIN DIENST AN DEN OPFERN ALSO?
In gewisser Weise. Das Gedenken an die Kinder kann auf diese Art lebendig gehalten werden. Das habe ich ihnen „versprochen“. Auch wenn es sich seltsam anhört: Bis heute habe ich das Gefühl, Annemarie will mir die anderen Kinder alle vorstellen.
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Waltraud Häupl: Die Kinder vom Spiegelgrund, Böhlau-Verlag