AfD und Co: Die mit der Wahrheit tänzeln

Von Marion Kraske

Mit der Wahrheit ist es so eine Sache. Wer will sie wissen? Will sie überhaupt jemand wissen? Vor allem im laufenden Wahlkampf für die Europawahlen? Oft, so scheint es, hat die Masse an der Wahrheit kein Interesse, schon gar nicht beim Thema Zuwanderung. Da hätschelt und tätschelt man lieber seine liebevoll gepflegten Vorurteile, die Mär von der strammen Zuwanderung in unsere Sozialsysteme, vom Heer der Sozialschmarotzer, die einfallen und das Land aussaugen, bis nichts mehr da ist – für einen selbst.

Dabei gibt es zum Thema durchaus interessante Studien. Studien wie diese hier:

1. Die angebliche Armutszuwanderung nach Deutschland ist demnach – zumindest bis Herbst 2013 – gar nicht belegt.
Das heißt, all jene, allen voran die CSU mit Ihrer Hetz-Kampgane vom fliegenden Betrüger, die uns weis machen wolten, dass dieses arme Deutschland von erbärmlichen Sozialschmarotzern nur so überschwemmt wird – liegen falsch. Beziehungsweise: Informieren (wenn man denn das Wörtchen in diesem Zusammenhang überhaupt verwenden will) FALSCH. Zufall? Wohl kaum.
2. Zudem belegt eine Studie der EU-Kommission über die Integration mobiler Eu-Bürger in sechs Städten eine durchweg positive Bilanz. In Barcelona, Dublin, Hamburg, Lille, Prag und Turin trugen die Zuwanderer dazu bei, dass dynamische Prozesse in Gang gesetzt wurden.
Hier die wesentlichen Ergebnisse der Studie:
• EU-Bürger ziehen hauptsächlich wegen Arbeitsmöglichkeiten um, sind im Durchschnitt jünger und nehmen eher am Wirtschaftsleben teil als die ansässige Bevölkerung in den untersuchten Städten.
• Der Zuzug jüngerer EU-Bürger im erwerbsfähigen Alter hilft den ausgewählten Städten dabei, die demografische Herausforderung einer alternden Bevölkerung und der sinkenden Zahl an Arbeitskräften zu bewältigen.
• Die EU-Bürger füllen bestehende Lücken auf dem Arbeitsmarkt, indem sie entweder Arbeiten annehmen, für die keine besondere Qualifikation erforderlich ist (in Turin und Hamburg), zum Wachstum neuer Sektoren (z. B. in Dublin) oder zu neuen unternehmerischen Initiativen (in Turin und Hamburg) beitragen.
Es wird zudem auf folgende Herausforderungen hingewiesen:
• Mobile EU-Bürger sind eher überqualifiziert als ihre Mitbürger (sie nehmen Beschäftigungen unterhalb ihres Qualifikationsniveaus an), was eine Vergeudung von Fähigkeiten bedeuten und die potenziellen Vorteile der Mobilität innerhalb der EU abschwächen könnte.
• In einigen Fällen sind Lohnunterschiede zwischen Staatsangehörigen des betreffenden Mitgliedstaates und mobilen EU-Bürgern aufgetreten (diese verdienen meistens weniger); allerdings konnte das nicht oft nachgewiesen werden.

Wer will schon Fakten?

Fakten Fakten Fakten also. Aber nur allzu oft sind gerade die gar nicht gewünscht. Ach, sagte jüngst eine Zuhörerin, die den Ausführungen der Autorin zum Thema lauschte, das sei ja schließlich lediglich meine (verbogene) Wahrheit. Sie aber sehe doch jeden Tag, wie die Realität wirklich sei. Die Massen, die aus fremden Ländern zu uns kämen, die auf der Straße hockten (und nichts täten) oder auf dem Bau arbeiteten (eben doch was täten – nämlich hiesigen Maurern oder Bauerbeitern die Arbeit wegnehmen). Das sei doch schließlich die einzige und wahrhaftige WAHRHEIT. Alles klar?

Die wahre Wahrheit und nichts als die Wahrheit – wenn so argumentiert wird, wird es regelmäßig gefährlich. Studien werden mit dieser lapidaren Begründung vom Tisch gewischt, ganz so, als seien sie das Papier nicht wert, auf dem sie gedruckt sind. Neutrale Untersuchungen werden auf diese Weise für tendenziös und unausgegoren erklärt.

Die Wahrheit? Die haben die Träger dieser monopolhaft-Wahrheit-versprühenden-Denkrichtung höchstselbst gepachtet. Ihr Wissen basiert mitunter auf den Ergüssen der BILD-Zeitung oder anderen einschlägigen Publikationen. Wussten wir doch immer schon, dass die Griechen, diese Faultiere, weniger arbeiten als wir, die strebsamen Germanen (eine Studie belegt das Gegenteil, aber was heißt das schon). Und nun neuerdings noch diese Zigeuner, die sich seit Anfang des Jahres hier und überall in der EU ungefragt niederlassen dürfen. Armutsgesellen aus Bulgarien und Rumänien. Dieser Wahrheit, so die forsche Aufklärertruppe, müsse man doch mal ins Gesicht schauen.

Solche Thesen äußert man nur besoffen oder im Schlafzimmer

Dass eine massenhafte Zuwanderung, wie prophezeit, bislang nicht absehbar ist – geschenkt. Studien (gerade die aus Brüssel) sind ja sowieso alle gefälscht. Die wahre Wahrheit haben ja die Aufklärer und Wahrheitsapostel in petto, gerne verpackt als Das-wird-man-doch-wohl-noch-mal-sagen-dürfen-Fiebeln in Sachbuchmanier. Sie verbreiten Thesen, so Sibylle Berg in einem wunderbar trefflichen Beitrag auf Spiegel Online, „die man eigentlich nur besoffen oder im Schlafzimmer zu äußern wagt“.

Und immer wieder kommen die vermeintlichen Oberaufklärer und Wahrheitsapologeten aus der Mitte der Gesellschaft. Bestes Beispiel: Der ebenso beratungsresistente wie dummdreiste Ex-Bundesbanker Thilo Sarrazin, der die Republik mit krudesten Thesen überspülte, etwa mit der „Wahrheit“ über die schlauen Deutschen und die genetisch minderwertigen weil geistig unterbemittelten Muslime. Ein bisschen Kücheneugenik und die Massen sind begeistert, die Milliönchen klingeln. Eugenik – ja , das hatten wir schon mal, damit kennen wir uns aus, damals, als ein gewisser Adolf Hitler die Gesellschaft in nützliche gute Deutsche und unnützliche Schmarotzer einteilte.

Dass ein maßgeblicher Teil der wild zusammengeschusterten Sarrazinschen Zuwanderungsthesen von der Humboldt-Universität für Unsinn erklärt wurden („Das durch die Sarrazin-Debatte stark defizitär geprägte öffentliche Bild „der Muslime“ in Deutschland entspricht nicht dem Sachstand der tatsächlich messbaren Integrationserfolge, wie sie von namhaften Forschungseinrichtungen und Marktforschungsinstituten erhoben und erforscht werden.“) – wen kümmerte das am Ende? Was blieb in weiten Teilen der ach so wahrheitsliebenden Öffentlichkeit: Dass die Muslime eine sozialgesellschaftliche Problemgruppe erster Güte sind.

Und so geistert Sarrazins Untergangstremolo nach wie vor durch fremdenfeindlich und rassistisch geprägte Diskurse, auch im Hinblick auf die seit dem 1.1.2014 eingeführte vollständige Freizügigkeit für Menschen aus Bulgarien und Rumänien. Derweil sitzt der unverbesserliche Aufklärer – nach wie vor Mitglied der SPD – mutmaßlich schon an einem neuen wahrheitsfindenden Pamphlet. Und auch das wird auf reißenden Absatz stoßen. Es gibt eben so viele Fans der reinen, unverhohlenen Wahrheit. Lässt sich doch mit dieser jene Hierarchie basteln, die es den versammelten armen Würstchen dieser Republik erlaubt, endlich einmal höchstselbst auf andere kleine Würstchen herunter zu schauen.

Die AfD: Oberaufklärer für den Ungeist am rechten Rand

Mit diesem Hang zur Wahrheit reüssiert in diesen Wochen vor der Europawahl auch die Rentnertruppe AfD (Alternative für Deutschland). Die Partei, die sich auf ihren Wahlplakaten gerne mal als verstaubte Herrenrunde präsentiert, hat sich mit ihren kritischen Thesen zum Euro einen Namen gemacht. Parteichef Lucke schwadroniert beim Thema Zuwanderung schon mal vom „sozialen Bodensatz“: Das sei “das, was sich nach unten absetzt und nicht wieder hochkommt.”

„Mut zur Wahrheit“, so preist sich die AfD dieser Tage den Hamburger Wählern an. Mehr als das hat die „Alternative“ nicht zu bieten. So soll das Mantra der Wahrheit zuallererst verdecken, dass die steilen Anti-Sprüche unter dem Deckmäntelchen von spießiger Mahner-Manier und ach so bravem Bürgergehabe vor allem jene ansprechen, die Verschwörungstheorien anhängen (an allem ist der böse Euro schuld) und/oder der Schar jener Unzufriedenen angehören, die sich geistig gerne am rechten Rand tummeln.

Wie erbärmlich der Umgang der AfD mit der Wahrheit in der Realität ist, zeigte freilich die Jugendveranstaltung der Truppe jüngst bei einer Veranstaltung in Köln, indem sie für Fernseh- und Radiojournalisten mit knebelnden Vertragsbedingungen aufwartete. Da wurde vorgegeben, wie lang Tonaufnahmen sein dürfen, dass Bildmaterial nach einem festgelegten Zeitraum gelöscht werden musste, dass Fotos nur dann zulässig sein sollten, wenn Veranstaltungsteilnehmer keine Einwände hätten. Bei Zuwiderhandlungen drohten den Berichterstattern Vertragsstrafen von bis zu 10.000 Euro. Ein klarer Verstoß gegen die Pressefreiheit, urteilte der Deutsche Journalistenverband aufgebracht.
Mit der Wahrheit ist es eben so eine Sache.

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Eine Antwort auf AfD und Co: Die mit der Wahrheit tänzeln

  1. Rainer Möller sagt:

    Wunderbar. Dann können wir ja alle Zuwendungen an Kreuzberg oder Duisburg streichen. Oder doch nicht? Sollte es vielleicht im Gesamtkomplex Zuwanderung große Problemfelder geben, die hier einfach zugedeckt werden? Und lassen sich alle politischen Probleme und Konflikte dadurch lösen, dass man sie journalistisch zudeckt? Und wenn viele Berufsjournalisten keine neutralen Berichterstatter sind, sondern mit hinterhältigen und niederträchtigen Tricks arbeiten – soll man sie tatsächlich trotzdem so behandeln, als wenn sie neutrale Berichterstatter wären?